Der lange Anlauf
… 17.00 Uhr…
…normalerweise wäre jetzt Hektik auf der Bühne der Kulturbrauerei in Berlin, gerade wären wir beim Soundcheck unseres neuen Programms „novemberblues“ – Der 9. November der deutschen Geschichte. Das Programm hatte, nein, hätte am 9.11.2020 Premiere haben sollen: Plakate waren gedruckt, geklebt, Flyer verteilt, der Flügel angemietet, das Catering bestellt, die Musiker verpflichtet… Aber der Lockdown, Verhinderer des ersten, zweiten und heute, des dritten Premieren-Versuchs, hat voll reingehauen. Kann die Tatsache, dass es den meisten Kollegen genauso geht, trösten? Ja, sicher!
Der vierte Anlauf, novemberblues auf die Bühne zu bringen, ist nun der 1.11. 2021. Karten für das Programm behalten ihre Gültigkeit, d.h. wenn bis dahin umfänglicher geimpft, als über die theoretische Möglichkeit, irgendwann eine Impfung zu erhalten, palavert wird.
Seit ca. zwei Jahren beschäftige ich mich mit dem sogenannten Schicksalstag der Deutschen, dem 9.11., für dessen (Be) Deutung vor allem Ereignisse der neunten November von 1918, 1938, 1989 Zeugnis ablegen. Aber es gab noch andere schicksalsträchtige 9. November: 1848, 1920, 1923, 1939, 1945, 1948, 1967… und bei diesen interessierten mich mehr die Schicksale Einzelner. So z.B. die Biografie des Paulskirchen-Abgeordneten Robert Blum (10.11.1807 – 9.11.1848), einer der bekanntesten Politiker seiner Zeit, der für einen deutschen Nationalstaat stritt, in dem Bürger- und Menschenrechte für jeden gelten sollten. Mit der Ermordung Blums am 9.11.1848 starben die demokratischen Hoffnungen jener Zeit. Sie sollten erst 70 Jahre später, am 9.11.1918 wieder auferstehen.
Die Geschichte des Kunstschreiners Johann Georg Elser (4.1.1903 – 9.4.1945), der in der Nacht vom 8. zum 9.11.1939 im Münchner Bürgerbräukeller ein Attentat auf Hitler und seine Mitbanditen verübte, das nur knapp scheiterte, weil Hitler und seine Entourage aus Witterungsgründen den Ort verfrüht verließen, ist mehrmals verfilmt worden. Was für ein Land wäre Deutschland wohl heute, wenn Elsers Attentat – er rechtfertigte sich immer wieder mit seiner Erkenntnis: „Friede oder Hitler“ – zielführend gewesen wäre?
Ich singe ein Lied über den 17jährigen deutsch-polnischen Juden Herschel Feibel Grünspan, der am Vorabend der Reichspogromnacht in der Deutschen Botschaft in Paris auf den Legationsrat Ernst vom Rath schoss.
Ich erzähle und singe über den polnischen Kinderarzt, Waisenhausdirektor, Schriftsteller, Pädagogen, Janusz Korczak, der die ihm anvertrauten Kinder aus seinem Waisenhaus im Warschauer Ghetto mit der Verheißung; „Kinder, wir fahren aufs Land hinaus“, in das Vernichtungslager Treblinka bis in den Tod, auch seinen eigenen, (7. 8.1942) begleitete. Ich stieß bei der Recherche über Korczak auf einen anderen Mann gleichen Namens. Nur ein „Z“ fehlt. Ferat Korcak, ehemaliger Neuköllner Linken-Abgeordneter dessen Pkw 2018 von Faschos abgefakelt wurde. Einer von diversen Brandanschlägen im Stadtbezirk Neukölln. Rechtsextreme, die „schon“ nach zwei Jahren dingfest gemacht werden konnten. Der Verdacht, dass Justitia auf dem rechten Auge blind ist….Wehret den Anfängen! Aber Hallo – was für Anfänge?
Auch das Abschiedsgedicht, das Adam Kuckhoff (Mitglied des Schulze-Bossen-Harnack-Kreises, von den Nationalsozialisten „Rote Kapelle“ getauft ) kurz vor seiner Hinrichtung für seine Frau Greta schreib, das ich in den 70er Jahren vertonte, gehört mit in dieses Programm.
Eine der schönsten Geschichten aber ist diese:
Am 9. November 1989 saß der russische Cellist Mstislaw Rostropowitsch in seiner Pariser Wohnung vor dem Fernseher und sah die Bilder vom Fall der Mauer. Euphorisiert buchte er für den nächsten Tag für sich, sein Cello und einen Freund Flüge nach Berlin. Ein Taxi brachte die beiden Männer und das Cello am 10.11.1989 an die Berliner Mauer. Rostropowitsch sagte zu seinem Freund, er wolle ein Dankbarkeitsgebet machen und etwas spielen, nur er allein.
Und er setzte sich nicht weit von der Mauer in der Nähe des Springer-Hauses auf einen ausgeliehenen Stuhl und spielte die Sarabande Suite von Bach. Etwa 20 Leute umstanden ihn. Einige weinten. Danach fuhren die beiden Freunde mit einem Taxi zum Flughafen zurück und tranken Champagner, bis die nächste Maschine nach Paris zurück flog. 1990 ist Mstislaw Rostropowitsch unter der Regierung von Gorbatschow in seine Heimat, die er 1974 verließ, zurück gekehrt. 2007 ist er in Moskau verstorben.
Und wie beendet man ein Song-Programm über das Schicksalsdatum der Deutschen? Am besten mit Musik. Oder?
Vielleicht irgendwas Knalliges, das Ohren, Lungen und Seele flutet, etwas zwischen Purple Rain und Pink Floyd?
Aber vorher noch die letzte Strophe des letzten Liedes:
jeda jehört zu ne Minderheit
ob Mann, ob Frau, ob Kind, ob Maus
der Tag zieht den Jahrhundertweg
und nu jehts Licht hier aus.