Mit Barbara Thalheim

Anlässlich einer Veranstaltung zur Erinnerung an die Pogromnacht, 79 Jahre danach.

Der Verein der Verfolgten des Naziregimes hat mich – 20 Jahre nach meinem ersten Besuch – in diesem November zur 79-jährigen Wiederkehr der Pogromnacht ins Rathaus von Treptow-Köpenick eingeladen, zu dieser Erbschaft etwas zu sagen. Zur Aktualität dieser Erinnerung, zu den verstärkten Anfängen gegen Muslime heute. Zu den Stolpersteinen in Erinnerung an Sozialdemokraten, Juden, Kommunisten und Zeugen Jehovas in Treptow und Köpenick.

Am Morgen dieser Matinee – ich war nicht weiter informiert worden, wer wie was –  sah ich, als ich die Einladung endlich fand, dass Barbara Thalheim singen wird. Ich war gespannt, hatte vorher kurz gegoogelt und erfahren, dass sie auch über ihren Vater singt, ohne dass ich seinen Vornamen irgendwo fand.

Anders als angekündigt, begann sie – und zwar über ihren Vater: den Kommunisten, der aus der KPD ausgetreten war und wie Willy Brandt zur SAP gefunden hatte, einer linken Partei zwischen Sozialdemokratie und KPD, um die demokratische Linke zu stärken. Er war früh aus Deutschland geflohen, hatte sich in Afrika und Frankreich aufgehalten, war 1940 in die Fänge der französischen Polizei geraten, ins Konzentrationslager Dachau verbracht und an die Ostfront geschickt worden. Und war dann bis zu seinem Tod 1994 treuer Kommunist.

Barbara Thalheim erinnerte an ihren Vater Thalheim. Das berührende war, dass er offenbar kaum etwas erzählt hat, jedenfalls seiner Tochter nicht. Das, was sie wusste, erfuhr sie, als ihr Vater in ihrer Klasse 4a an der Grundschule Berlin Karlshorst 1957 erzählte. Emigration ist, wenn man seine Heimat verlassen muss, weil man in ihr nicht mehr leben kann und wegen seiner politischen Ansicht verfolgt wird. Ihr könnt jederzeit Fragen stellen. Erst nach seinem Tod 1994 fand die Tochter im Bundesarchiv  ein 500-seitiges Manuskript ihres Vaters: Mein unbewältigtes Jahrhundert . Mein Vater und ich – sang sie in dieser Matinée – waren Parallelen, die sicher davon ausgehen konnten, dass sie sich im unendlichen treffen würden. Eine offenkundig bis heute schmerzhafte Erinnerung, die sie uns an diesem Vormittag mitteilte.

Als wir nach dem Ende dieser Matinee noch mit den Veranstaltern einige Minuten zusammenstanden, und ich sie nach dem Vornamen des Vaters fragte und ihn – Werner – erfuhr, brach sie das Gespräch ab, gab mir noch ihr beeindruckendes Song-Buch „Vorm Tod ist alles Leben“ und erklärte, sie sei nicht sprechfähig und gerade aus der Charité gekommen. Ihr Blutdruck sei nicht zu kontrollieren. Erst Tage später erfuhr ich, dass es anlässlich ihrer 50-jährigen Tätigkeit als Künstlerin eine Art Abrechnungswelle über ihre Stasitätigkeit gegeben hatte – wie schon einmal vor über 20 Jahren. Ich machte mich schlau und davon will ich in einigen Sätzen berichten.

Ohne Sorgfalt: Denunziert

Barbara Thalheim hatte in ihrem biografisch angelegten Mugge berichtet, dass sie Anfang der siebziger Jahre als junge Erwachsene unterschrieben und wie sie später erfuhr einem Spionageabwehrmann der Staatssicherheit dies und jenes über ihre Künstlertätigkeit berichtet hat. Anfang der Neunzigerjahre erinnerte sie sich daran,  dass sie unterschrieben habe, wollte dem auf den Grund gehen und bat dazu einen Stasi-Akten-Fachmann, den angesehenen Journalisten Karl-Heinz Baum der Frankfurter Rundschau, die Akte, die sie selbst – siehe Stasi-Unterlagen-Gesetz: „Täter“ dürfen ihre Akten nicht selbst einsehen, geschweige denn beantragen –   zu beschaffen und mit ihr durchzugehen.

In ihr steht, dass ihre Information dafür gesorgt hätte, dass eine Freundin in den 70er Jahren vier Monate ins Gefängnis gekommen sei. Mit diesem Journalisten ging sie zu dieser Freundin. Es war der Journalist der Frankfurter Rundschau, der dann darüber berichtet hat. Danach war es ausgeschlossen, dass Barbara Thalheim ihre Freundin denunziert hat. Sie hat sich dennoch Vorwürfe gemacht, überhaupt mit diesem kleinen Mann der Spionageabwehr – von dem sie nicht wusste, dass er aus der Spionageabwehr war – zu reden.

Aber sie hat es öffentlich gemacht und sich selbst kritisiert. Sie hat sich nach diesem Stand nicht gegenüber anderen Personen schuldig gemacht. Es war ihre – ambivalente – Identifizierung mit dem DDR-Regime, mit der Idee des DDR-Kommunismus, die sie zugleich nicht verwirklicht sah. In diesem Sinn: Tochter ihres Vaters. Und doch anders, kritisch. Sie wurde 1980 auch wegen ihrer unnachsichtigen Kritik in ihren öffentlichen Auftritten als Künstlerin aus der SED rausgeworfen. All das ist öffentlich seit Mitte der Neunzigerjahre.[1] 

Unfair

Um nicht missverstanden zu werden: Strafwürdige Handlungen, erst recht Verbrechen und Mord – ob von der Staatssicherheit, der RAF oder dem NSU-Rechtsterror – , müssen in rechtsstaatlichen Verfahren geahndet werden –  aber die Recherche in dieser Sache ergab nichts, was hätte bestraft werden können. Dann doch auf Basis einer vielfach manipulierten Stasi-Akte voller Unwahrheiten öffentlich herzuziehen, hat mit Aufklärung nichts zu tun, sondern ist Ausdruck eines juste milieu, das nach Belieben verfährt.

Wie kann es sein, dass über 20 Jahre danach anlässlich ihres 70. Geburtstags diese geklärte Sache in Berliner Boulevard-Medien als Schlamm an die Öffentlichkeit geschleudert wird? Ohne dass angemessen daran erinnert wird, dass sie eine rückhaltlose Aufklärung vor über 20 Jahren  von sich aus betrieben und systematisch ausgebreitet hatte?

Ich bin Barbara Thalheim am 12. November in der Veranstaltung zur  Erinnerung an den 9. November 1938 das erste Mal begegnet. Fair ist das Verhalten der Medien nicht und von einer angemessenen Aufarbeitung ist das Lichtjahre entfernt. Es ist ein Schlamm, in dem man verstrickt werden soll. Was für eine vertane Chance!  Unter welchen Bedingungen ist versuchter Ruf-Mord fair? Gibt es nicht auch in einer vernünftigen Öffentlichkeit eine angemessene, angemessen differenzierte Informationspflicht?

Vor allem aber ein dem Rechtsstaat gemäße Haltung des in dubio pro reo? – Ist es nicht auch Ausdruck kultureller Kolonialisierung, wenn wir (erst recht wir Westdeutsche) den Menschen aus der DDR allzu oft Anpassung und Fehlverhalten unterstellen und so deren Lebensleistung infrage stellen, wenn sie unter oft widrigen obrigkeitsstaatlichen Bedingungen das beste draus gemacht haben, nicht zuletzt wenn sie fair zu ihren Mitmenschen waren, ob nun im Widerstand oder im pragmatischen Umgang mit den Widrigkeiten in der DDR?

Mir kommt es wie eine Doppelmoral vor, wenn man, was Generationen und Parteien gegenüber dem Nationalsozialismus über Jahrzehnte nicht aufgebracht hatten, nun nachholend gegenüber den Menschen aus der ehemaligen DDR mit umso größerem Eifer betreibt und sich in die Aufarbeitung stürzt? Gilt das nicht auch für die, die etwa in jungen Jahren mit der Stasi gearbeitet haben, ohne erkennbar Menschen und ihr Schicksal auf dem Gewissen zu haben? Erst recht dann, wenn sie selbst ihre frühe Identifizierung mit dem, was sie als das bessere Modell empfanden, später korrigiert und ihre Haltung öffentlich gemacht haben? Ist es legitim dann wie in einem Art selbstgerechten Hexen- und Vernichtungsprozess praktisch einen Rufmordversuch zu betreiben? Mit dem typischen Arsenal an Halb-Unterstellungen der Stasi-Texte zu verfahren? Warum diese Quasi-Denunziation – wie in einem Hexenprozess, immer wenn es gefällt und immer mit dem Ziel, die Persönlichkeit zu schädigen oder zu vernichten wie im Falle Barbara Thalheim, die genügend klargemacht hat, und der das System ihr mit ihrem Ausschluss aus der SED bestätigt hat, dass sie trotz ihrer früheren Identifizierung ihm nicht mehr folgt?

Das alles hinterlässt mich irritiert und tieftraurig. Und mein Zorn richtet sich auf die Medien und die Personen, die sich dazu hergeben.

Hajo Funke, 18. 11. 2017


[1]

                        [1] Obwohl der Spiegel damals von dieser Sachlage unterrichtet  wurde, hat er dennoch aus der Akte zitiert, ohne im Sinn einer journalistischen Mindest-Sorgfalt den Wahrheitsgehalt dieser Stasi-typisch manipulierten Akte angemessen zu überprüfen oder sie gar infrage zu stellen. Der, der damals veröffentlicht hat, heißt Henryk Broder. Ein Mitarbeiter der Gauck-Behörde hatte Barbara Thalheims Akte an den Spiegel „durchgestochen“. Karl-Heinz Baum hatte in Erfahrung gebracht, wer dieser Mitarbeiter war und sich diesbezüglich bei Gauck beschwert. Gauck wollte daraufhin diesen Mitarbeiter seiner Behörde entlassen. Karl-Heinz-Baum hat das aus humanitären Gründen verhindert.