Interview mit Barbara Thalheim
Ulrike Hempel, Mai 2010
UH: Auf Ihrer Homepage ist seit April ein Kurzfilm „Worte des Lebens“ über eine afrikanische Theatergruppe in Conakry, der Hauptstadt Guineas zu sehen. Werden Sie jetzt Filmemacherin?
Mit dem Film möchte ich vor allem der Theatercompagnie Tyabala in Conakry helfen. Die Gruppe hat eine exzellente Ausbildung an der Kunsthochschule Guineas erhalten. Aber noch nie haben die Spieler auf einer richtigen Theaterbühne gespielt. Denn es gibt dort keine Theater, überhaupt keine Bühnen mit Licht und Vorhang und Stuhlreihen und so sind die Spieler vor allem Sozialarbeiter mit theatralischen Handwerk für arbeitslose Jugendliche, d.h. für die Mehrheit der Bevölkerung dort. Das wollte ich publik machen. Auf den selbst gedrehten Film bin ich stolz, ein Ausflug zu neuen Ufern, den ich ohne die junge Cutterin Julia Pijagin nicht hingekriegt hätte. Vielleicht sieht ja Christoph Schlingensief diesen Film. Ich war im Januar 2010 für etwa einen Monat in Guinea. Um ehrlich zu sein, ich hoffe darauf, dass er Tyabala für sein Afrikaprojekt entdeckt. Sein Traum ist eine Begegnungsstätte für Afrikaner und Europäer, Festspielhaus, das in Afrika entstehen soll.
UH: Anfang der 80er sangen Sie mal ein Lied: Ich will nicht nach Amerika, ich muss nach Afrika. Das war komisch und politisch in einer Zeit, in der Ostberliner nicht einmal nach Berlin-Charlottenburg durften. Warum spielt Afrika heute in Ihren Bühnenprogrammen eine Rolle?
Sie spielen auf meinen Song: „Die Afrikanerin“ an und die dazu gehörige Geschichte? Das Lied entstand nach einer Senegalreise. Eine Analphabetin, die ich auf der Insel Gorée kennen lernte, stellt uns Europäern darin Fragen. In den letzten 15 Jahren war ich immer wieder in französischsprachigen Ländern Afrikas. Meistens auf Einladung der Goethe-Institute.
UH: Ihr aktuelles Programm „herzverloren“ hat aber nichts mit Afrika zu tun, sondern mit verlorenen Herzen?
Herz verloren heißt ein Lied von Renaud, dem enfant terrible der französischen Popmusik. Ich habe mit drei Dichter-Freunden fünfzehn aktuelle französische Chansons nachgedichtet und versucht der Musik zusätzliche Dissonanzen abzuringen. Nicht die „üblichen Verdächtigen“ von Brel bis Piaf, von Brassens bis Prevert, die schon hundertmal Nachgedichteten haben mich interessiert, sondern die in Deutschland kaum bekannten, die heutigen Stars in Frankreich. Zum ersten Mal in meinem über dreißigjährigen Sängerinnen-Leben habe ich Songs gecovert. Coverversionen sind Liebeserklärungen an Kollegen. Man muss sich fast mehr Mühe geben als bei eigenen Liedern und wenn man es richtig macht, werden die Songs auf magische Weise zu eigenen.
UH: Am 9. November vergangenen Jahres hatte in Magdeburg das Programm „Es möcht der Holunder sterben an eurer Vergesslichkeit“ Premiere, eine szenische Collage mit Gedichten aus der DDR, die Sie – selbst mitspielend – initiiert haben. Sie haben einmal scherzhaft gesagt, dass Sie sich diese Produktion mit zehn Studenten der Berliner Schule für Schauspiel in der Regie von Klaus Fiedler zum 20. Jahrestag des Mauerfalls „geschenkt“ hätten.
Eine künstlerische Idee zu haben, ist das eine. Sie nach marktwirtschaftlichen Gesetzen umzusetzen, etwas ganz anderes. Die meisten meiner Freunde sind wie ich unfähig auf der Subventionsbeschaffungsklaviatur Töne anzuschlagen. Außerdem sitzen in Jurys, die über finanzielle Zuwendungen für künstlerische Projekte zu entscheiden haben kaum Ostdeutsche meiner Generation. Als Künstlerin ohne Lobby muss man sich gar nicht erst um finanzielle Zuwendungen bewerben, das ist völlig sinnlos.
Die Holunder-Programm-Idee – der Titel verweist auf eine Gedichtzeile von Johannes Bobrowski – kam mir nach dem Lesen des Buches „100 Gedichte aus der DDR“, eine Anthologie des Klaus-Wagenbach-Verlages 2009. Die Lyrik der DDR gehört nun seit 20 Jahren zum kulturellen deutschen Erbe und ist doch weitgehend unbekannt. Das ist ein Unding. Deshalb wollte ich etwas für ihre Verbreitung tun. In sechswöchiger Probenarbeit entwickelten die jungen Schauspieler, der Regisseur und ich Spielszenen zu jedem Gedicht, von denen ich einige vertonte. Das war eine stressige, aber auch kreative Zeit. Die Aufführungen wurden euphorisch aufgenommen, wirklich. Die Arbeit hat sich gelohnt.
UH: Bekam wirklich keiner der beteiligten Künstler eine Gage?
14 Leute – Schauspieler, Techniker, Musiker, Regisseur – produzieren Kosten zum Beispiel Reisekosten, Requisiten, Programmhefte und Catering. Die Einnahmen von Theatern mit 90 bis 200 Plätzen, auch wenn sie besetzt sind, finanzieren zwar die Produktionskosten, aber keine Gagen. Für so ein Unternehmen braucht man eigentlich finanzielle Zuwendungen, wie sie für eine ähnliche Produktion mit Studenten der Ernst-Busch-Schule zur Verfügung stand. Allerdings war der künstlerischer Ansatz ein anderer: Zur Aufführung gelangten von der Stasi „einkassierte“ Texte von DDR-Autoren, was per se noch kein künstlerisches Qualitätsmerkmal von Texten ist. Wir legten mit unserem Programm den Schwerpunkt auf die Poesie des Ostens, die künstlerischen Bestand haben muss im vereinten Deutschland. Diese Sichtweise wird immer noch nicht gut gelitten von Leuten die meinen, dass nur das Ampelmännchen aus der DDR überleben soll.
UH: Vor allem dann nicht, wenn die Frau, die so denkt, selber Stasi belastet ist?
Kennen Sie den Gedichtband von Thomas Brasch „Wer durch mein Leben will, muss durch mein Zimmer“? Ein starkes Buch. Wer mein Leben verstehen will, muss mit mir durch meine turbulenten 70er Jahre. Ich war jung und leicht einzufangen. Jetzt bin ich über Sechzig und weiß: Leben kann man nur vorwärts, Leben verstehen nur rückwärts. Was ich über mich und mein Verhalten in den siebziger Jahren aus Akten der Staatssicherheit erfahren durfte, musste ich mit mir abmachen und in zwei, drei Fällen mit denen, die damals meine Freunde waren und die heute – so sie noch leben – nach wie vor meine Nähe und meinen Rat suchen. Wäre es nicht auch mal an der Zeit, über die Jahrzehnte lange Praxis westdeutscher Berufsverbote zu reden? Ich habe betroffene Freunde, die nicht erst seit der Einheit fragen, wann die BND-Akten geöffnet werden.
UH: Erscheint Ihnen ihr Leben manchmal fremd?
Sie meinen im Sinne Adornos: Es gibt kein richtiges Leben im falschen? Ich habe mir diese Frage genauso oft in meinem ersten Leben, wie auch in meinem zweiten, heutigen Leben gestellt. Früher waren Konflikte für mich oft ideologischer, jedoch niemals existenzbedrohender Natur, heute sind sie vor allem materieller und damit existenzbedrohend. Der Sprung vom real existierenden Sozialismus in den sozial reagierenden Existenzialismus ist nicht nur mir nicht gut gelungen.
Ich mache zu viele Sachen, ohne nach dem Gewinn zu fragen, soll heißen, ich lebe so weiter wie früher: Das Lustprinzip steht vor dem Gewinnprinzip. Es ist mir unmöglich das umzukehren. Nicht, weil ich nicht will, ich kann es nicht. Jeder Kulturverein, der nur lange genug am Telefon über seine Unterfinanzierung jammert, schafft es, mich für ein Benefizkonzert zu entflammen. Die Folgen sind klar: ich wäre vor kurzem beinahe aus der Künstlersozialkasse rausgeflogen.
Aber auch das Missverhältnis zwischen subventionierter Hochkultur und kaum subventionierter Subkultur tut sein übriges. Mittlerweile überleben Kleintheater dadurch, dass sie den gastspielenden Künstlern aus eigenen Überlebensgründen das volle Risiko überhelfen müssen – Saalmiete, Sozialabgaben, GEMA, Werbung, Versicherungen. Der Konzertmarkt für meine Szene befindet sich im freien Fall: der Besucher und nur der finanziert uns mit seinem Eintritt. Bleibt er weg, bleiben wir auf den Kosten sitzen. Dabei geht es auch anders. Zum Beispiel in der Schweiz. Die haben eine subventionierte Kleintheaterszene. Eine Commune, die kein Kleintheater unterhält, ist wie eine Kirche ohne Glockenturm.
UH: Würden Sie gerne eine bestimmte Form von Leben nachholen?
Nein, ich lebe im Heute. Was und wie ich gelebt habe, bleibt im Kopf, aber nach meinen, nicht nach aufoktroyierten Kindheitsmustern. Ich war beim Mauerfall noch nicht zu alt, um – in Umkehrung des dämlichen DDR-Slogans – einzuholen, ohne aufzuholen. Seither habe ich einiges gesehen von der Welt. Selten als Touristin, meistens in Verbindung mit meinem Job. So kann ich mich am besten anderen Kulturen nähern, weil die Menschen, die man als Künstlerin kennen lernt, ganz andere sind. Klar, ich bin aufgrund meines Alters, meiner Herkunft, meiner künstlerischen Handschrift eine Art Auslaufmodell. Eigentlich wäre es konsequent endlich von der Bühne abzutreten, die Säle in denen ich auftrete, werden sukzessive kleiner. Schon einmal habe ich mich 1995 von der Bühne verabschiedet. Es ging mir nicht gut damit. Insofern war die Entscheidung 1999 vom Rücktritt zurück zu treten und nun so lange zu singen wie die Gesundheit es zulässt, auch eine Überlebensentscheidung.
UH: Und wie kommen Sie damit zurecht?
Mal mehr, mal weniger gut. Die Angst ist der Taumel der Freiheit, sagt Kierkegaard. Die ausfransten Ränder der „totalen Freiheit“ mit Rechtsradikalismus, Bankencrashs und immer längeren Schlangen vor Sozialämtern machen mir Angst. Die Unumkehrbarkeit von wahnwitzigen deutschen Rüstungsimporten und ärmer werdender Bevölkerung will mir nicht einleuchten.
Kraft kommt aus schönen Momenten. Neulich hat mich ein Pfarrer aus Hamburg seinen Gästen zum eigenen 50. Geburtstag geschenkt. Ich kannte den Mann nicht persönlich, fuhr übellaunig hin und erwartete einen gut bezahlten Gig vor einer Pfarrgemeinde unterm Kruzifix. Aber ich spielte auf einer Bühne in einer Fabriketage vor 150 Gästen, von denen mich kaum jemand kannte und das Konzert wurde ein High Light. Unglaublich.
UH: Hat Älterwerden auch Vorteile?
Ich beobachte mich und meine Freundinnen dabei, wie wir langsam zu Neutren mutieren. Viele Aspekte, die menschliche Beziehungen verkomplizieren können, fallen weg, zumal zwischen den Geschlechtern. Bis vor wenigen Jahren sah ich ein männliches Gegenüber doch auch immer mit einem gewissen Testblick, ja, nein, oder, was? Das Wesentliche rückt mehr in den Mittelpunkt: wie man tickt, wie man denkt, wie man politisch orientiert ist, was man liest und ob einer den anderen trösten kann, wenn es drauf ankommt. Und eigentlich ist das vielleicht ein Äquivalent für verlorene Jugend. Wenn man es annimmt! Was mir nicht immer gelingt, aber ich gebe mir Mühe.
UH: Welches Gefühl hat Sie schon seit frühster Kindheit begleitet?
Scham ist mein vorherrschendes Kindheitsgefühl. Ich war Einzelkind und entstamme, wenn man so will dem „DDR-Adel“. Mein Vater war Kommunist, während der Nazizeit in der Emigration in Frankreich und im KZ Dachau, das er überlebte. Trotz behüteter Kindheit, schämte ich mich ausdauernd bis weit ins Erwachsensein hinein. Ich schämte mich für mich, für andere, für mein Versagen in der Schule etc. Außerhalb der Schule war ich Anführerin einer Gang, die geklaut hat auf Teufel komm raus, bis ich meinen „Raum“ gefunden hatte: die Kunst. Margekunst. Günter Gaus prägte für den Osten den Begriff der Nischengesellschaft. Das trifft es genau. In dieser Nischengesellschaft hatte ich mich rebellierend eingerichtet. Klingt paradox, ich weiß.
UH: Wer Sie heute auf Bühnen erlebt, erfährt viel über Frankreich.
Frankreich ist das Land des Chansons, ich bin eine Chansonnière und es ist das Land, dem mein Vater sein Überleben verdankt. Ich stehe gerade im Mailkontakt zu einer Erfurterin, die es nach der Wende in die französischen Pyrenäen verschlug. Sie arbeitet dort als Lehrerin und schreibt mir, dass sie sehr viele Dinge in Frankreich an die DDR erinnern würden. Diese Wahrnehmung teile ich absolut. Zum Beispiel das Lebensgefühl, das laisser-faire, das Gammelige öffentlicher Gebäude und Orte, das geschmacklose Interieur der meisten Kneipen, der überbordende Kitsch in vielen privaten Wohnstuben, aber auch die sozialen Netze der Menschen. Egal warum, Frankreich ist meine Refuge. Was für die Westachtundsechziger die Toskana ist, ist für mich seit dem ich Bundesbürgerin bin, die Loiret. Ich hätte diese Gegend gern als Zwanzigjährige entdeckt. Dafür klage ich niemanden an. Es ist okay, so wie es ist.