Deutsches Leben auf Mallorca – Mai 2008
Sicher kann man sich unattraktivere Wohnorte auf der Welt vorstellen als Mallorca. 20.000 Deutsche sind auf der Baleareninsel polizeilich gemeldet. Dazu kommt noch eine große Zahl illegal lebender Bewohner. Insgesamt gesehen ist jeder vierte Inselbewohner ein Zugereister. Mallorca, die Insel der Könige, Künstler, Topmanager, Starlets, Starköche, Playboys, Millionäre und Jetsetter – so das Klischee – beherbergt auch viele Aus- und Umsteiger.
Ganz abgesehen von den Inselfreaks mit knappen Budget, Leute jeden Alters, die für 48 € einen Flug nach Palma buchen und bleiben, irgendwie. Ich fuhr im Mai 2008 zu Konzerten für deutsche Insulaner nach Mallorca. Das Dorf S’Arracó nahe Andratx im Südwesten der Insel erschien mir wie eine deutsche Enklave.
Auch die Filmemacherin, Managerin, Fotografin und Verlegerin Harriet Eder lebt in S’Arracó… Als Äquivalent für ein ausgefallenes Konzert lud sie mich zum „Freundehopping“ ein. Harriet entpuppte sich als kommunikatives Drehkreuz der deutschen Mallorcafraktion. Wer mit ihr über die Insel fährt, lernt Leute kennen. Und was für welche!
Das ES PUPUT füllt sich. Vereinzelt ein paar englische, spanische Brocken, das Gros spricht Deutsch. Man kennt sich. Während ich noch mit mir hadere, ob ich mein Konzert mit dem Lied „Insel Sein“ eröffnen soll, Mallorca kommt darin nicht gut weg, geht das Licht an. Los geht’s:
Ich heiße Rügen, Amrum, Föhr /Usedom, Belle-Ile en mer /Borkum oder Korsika, Lanzerote, Ibiza/Ich heiße Fehmarn, Hallig Hooge/ Oye, Bornholm, Wangerooge Guernsey, Moen und Formentera, Hiddensee, Pöhl und Madera/ Alle Namen sind mir Recht/ Nur bei einem wird mir schlecht / Solln sich andere darum reißen/ich will nie Mallorca heißen… singe ich und ernte prompt ein lautes BUUUUH an der Mallorcastelle. Das kommt von Jeanette. Ich bin auch Ossi stellt sich die junge Frau mit burschikosem Kurzhaarschnitt, feurigen Augen und dunkel lila Fingernägeln aus Berlin-Lichtenberg nach dem Konzert vor. Auch wenn es ironisch gemeint ist, so dürfe man nicht über Mallorca, eine der schönsten Inseln der ganzen Welt, herziehen. Mallorca, das ist nicht „Ballermann“, sagt Jeanette. Weiß ich, sage ich kleinlaut, war nur Ironie.
Jeanette erzählt:
Vor 4 Jahren hatte ihr Berliner Arbeitgeber, ein Baubetrieb, kein Gehalt mehr zahlen können. Das sah sie sich zwei Monate an, dann kündigte sie und buchte einen Kurzurlaub auf Mallorca. Ausspannen, sich neu orientieren, dachte sie und blieb auf der Insel hängen. Es begann mit einigen Gefälligkeiten, Aushilfsarbeiten, dann wurde sie als geschickte Allround-Handwerkerin unter Mallorquinern weitergereicht. Sie konnte sich vor Arbeit nicht retten.
Sie lädt mich in ihr mallorquinisches Häuschen ein, das sie mit ihrem Freund Friedhelm zu günstigen Konditionen gemietet hat. Wir sitzen im üppig blühenden Gärtchen mit Minipool hinterm Haus. Alles selbst gebaut sagt Jeanette, während Friedhelm im abgedunkelten Zimmer vorm aufgewurzelten Fernseher „Formel 1“ schaut.
Die Sonne meint es allzu gut und Jeanette erzählt, in welche Abenteuer sie sich auf der Insel bereits stürzte. Sie war Haushandwerkerin, Eisverkäuferin, Versicherungsvertreterin, Heiratsvermittlerin, Fußpflegerin. Das Fußpflegebesteck für mehrere Tausend Euro hat sie gerade verschenkt, weil der Job nicht mehr genug abwarf. Jetzt betreibt sie mit ihrem Freund das „estilo“, einen Laden für Parkett und Laminat. Ich frage schüchtern, ob nicht aus gutem Grund die meisten Fußböden in mediterranen Ländern gefliest sind. Sie wiegelt ab und versucht zu begründen, warum Holz der bessere Werkstoff ist. Harriet mahnt zum Aufbruch, wir wollen zu Manfred Schmale, der ebenfalls im Konzert war und eine Einladung zu sich nach Hause ausgesprochen hatte.
Manfred Schmale ist als ehemaliger Westberliner auf Mallorca das, was er von 1961 bis 1989 war, ein Insulaner. Seit über 20 Jahren lebt der Maler und Bildhauer in sternenklaren Nächte mit seiner Frau Nina in S’Arraco in einem Hexenhäuschen.
Male, wie ihn hier jeder nennt, ist der einzige Trabant-Besitzer auf Mallorca. Er will uns seinen Trabant und sein Häuschen – in dieser Reihenfolge – zeigen. Das Ostalgie-Gefährt (immerhin ein Vier-Takter) steht in seinem und Ninas Atelier auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ein Neubau, der mehr Fläche aufzuweisen hat, als das hutzelige 300 Jahre alte Wohnhaus, das Höhle und Gebärmutter ist.
Aus dem ersten Stock blickt man ins winzige überdachte Vorgärtchen. Ein Hochzeitsfoto überm Küchentisch wird entstaubt und in die Sonne gerückt: Es zeigt den fülligen Manfred Schmale als Braut geschminkt, mit Spitzenschleier im weißen Kleid, seine Frau Nina in männlichem Outfit mit dunklem Anzug und Hut. Die „Braut“, Male, hält den gemeinsamen Säugling im Arm.
Überhaupt Nina.
Seit 1981 beschäftigt sich die Künstlerin Nina Krüger-Schmale nach dem Prinzip „Schöner Schonen“ mit Schonern. Sie fertigt Schonbezüge für Wasserhähne, Waschbecken, Pumpen, Hausfrauen, Rentnerinnen und andere lebendige und tote Lebewesen an. Die Schonbe- bzw. -anzüge verdecken neodadaistisch alles, woran wir uns gewöhnt haben und stellen auf diese Weise die Kitschästhetik unserer Zeit bloß. Z.B. hat sie eine Burka für 5 Personen genäht, oder einen Tigerfellschoner für eine Oma, die – wartend auf sonnige Auftritte – neben dem Trabant mit Motorschaden in der Garage in S’Arracó hockt.
Eine Mail erreichte mich Ende März in Berlin:
Hallo Barbara, gestern schlug ich die Mallorca-Zeitung auf und da kamst du mir als Konzertankündigung entgegen. Ich wohne seit September mit den Kindern auf der Insel. Warum-wie-weshalb… persönlich, ja? Komm mich besuchen, unbedingt! Wir wohnen in Deyá, gleich hinter Valldemossa, das kennt man wegen George Sand und Chopin. Alles Liebe und viele Grüsse, Deine Sabine!
Die Kölner Schriftstellerin Sabine Schiffner ist mit ihren beiden Kindern nach Mallorca gezogen. Der Liebe wegen!! Ein Mallorquiner, den sie während eines Arbeitsaufenthaltes im Brandenburgischen Schloss Wiepersdorf kennen lernte, hat sie zu diesem Schritt veranlasst. Im Hochland hinter der Nordküste lebt sie zwischen malerischen Gebirgsschluchten, Palmenhainen, Olivenbäumen, Viehweiden, felsigen Klippen, die sich zur Meerseite hin öffnen und den Blick bis zum Horizont freigeben mit dem Schriftsteller José-Luis de Juan (This breathing world, Bestseller von de Juan) in dessen geräumigem Sommerhaus. Von ihrem Schreibtisch aus sieht man hundert Meter in die Tiefe, aufs Mittelmeer. Diese Kulisse macht sprachlos und so verhängt die Autorin die göttliche Aussicht mit dunklem Stoff, um schreiben zu können. Malerischer kann man auch als Millionär nicht auf Mallorca wohnen.
Die Kinder sprechen nach 8 Monaten bereits Mallorquin und spanisch, haben sich – so scheint es – gut eingelebt. Wir sitzen im Garten und reden über unsere Arbeit. Sabines Roman „Kindbettfieber“ erhielt 2005 den Jürgen-Pronto-Preis. In Deinem Verlag (S.Fischer) kannst Du Dir mit diesem Wohnort sicher die Lektoren aussuchen, sage ich. Wer würde nicht gern zum Arbeiten nach Mallorca fliegen? Schreiben könne sie überall, sagt die schöne Bremerin aus Köln und lacht. Im letzten Jahr erschien ihr Gedichtband DSCHINN bei S. Fischer. Einige Gedichte darin geben Auskunft über ihre neue Heimat:
winde wehn
das boot das in der bucht vor anker liegt
geht immer auf und nieder
die leeren hefte auf dem tisch
am fenster flattern
und lose läden klappern an die wände
der wiedehopf puput genannt ist eben
gerade fortgeflogen
im swimmingpool treiben die letzten
überreifen feigen
des langen sommers ende naht
der oleander ist ganz schlapp
das telefon liegt wie nervös in einer hand
die will schon lange nicht mehr schreiben
und eine nummer die sie wählen könnte
fällt ihr partout nicht ein
das segelboot am horizont
verschwimmt im schaum der kronen
der wedel von der palme
die unser haus in dem wir erst seit kurzem wohnen
markiert schwingen vorm fenster hin und her
als wollten sie sie greifen
die glocken in dem dorf am hügel läuten
den mittag ein
die frauen aus dem nachbarhaus
liegen zur siesta träumen
arges und schönes in langen
stunden und in ihren räumen
klingen die lieder wieder
die sie in den vergangenen nächten sangen
das boot das in der bucht vor
anker liegt geht immer auf und niederSabine Schiffner
Vor 20 Jahren erwarb der Werbefotograf Will Kauffmann aus Frankfurt/M. in Lloret de Vistalegre in Mallorcas Inselmitte die Finca Son Bauloó als malerische Kulisse für seine Fotoaufträge. Ich habe über Jahre unverschämt viel Geld verdient, sagt Kauffmann, dessen beträchtliches Anwesen Reichtum keineswegs zur Schau stellt.
Das große, einstmals angebaute Fotostudio ist heute Konzertsaal. Kauffmann ist 65 und wird in Kürze Vater. Die Kamera nimmt er nicht mehr beruflich zur Hand. Er ist Herbergsvater, Küchenchef und Konzertveranstalter. Auf seiner Finca geht es zu wie in der Villa Kunterbunt. Wir sitzen mit seiner hochschwangeren jungen deutschen Frau und deren Freundin im Garten an der Kaffeetafel, über uns krakeelt ein weiteres Familienmitglied, ein Papagei im Baum. 2 Pferde heben ihre Köpfe über die unsrigen hinweg und stupsen den Hausherren an. Wo es nach Kaffee duftet, gibt es auch Zucker. Bis vor kurzem lebte noch ein Alligator im Familienverbund. Kaufmann ist – die Werbebranche verpflichtet – ein perfekter Glanzwelten- Suggerierer. Er kann kochen, backen, den perfekten Gastgeber geben, Frauen beminnen. . Wenn sich seine Finca mit Seminargruppen und Urlaubern füllt, läuft er zur Hochform auf.
Nach einem Stopp in Valldemossa, wo sich alljährlich über 300.000 Touristen auf den Spuren von Frédéric Chopin und George Sand durch die Gassen schieben, weil das berühmte Liebespaar hier im Winter 1838/39 sechs nasskalte, unfreundliche Wochen verbrachte, fahren wir die Westküste entlang zurück nach S’Arracó.
Mir ist schlecht. Aber die Landschaft hilft verdauen. Ich halte den Atem an vor Ehrfurcht, denn der Heimweg führt uns durch wahrhaft göttliche Natur, die immer wieder in Sichtachsen Blicke vom Hochland auf das offene türkisgrüne Meer freigibt, so schön, dass man nicht glaubt, dass es irgendwo auf der ganzen Welt eine Steigerung geben kann. Vielleicht ging es Chopin am Fenster seiner Klosterzelle in Valldemossa ähnlich wie Sabine Schiffner hinter ihrem Schreibtisch in Déja. Die Vollkommenheit der mediterranen Landschaft vor Augen, saß Chopin frierend an seinem Klavier, unfähig fast, eine Note zu Papier zu bringen. Vielleicht kam ihm sein Asthma „zur Hilfe“?
Eine Freundin musst Du unbedingt noch kennen lernen, sagt Harriet und steuerte ihr Auto durch Andratx, wo gegen 18.00 Uhr das Leben pulsiert, als wäre es früh um 8.00. Händler, Handwerker schieben ihre Karren durch enge Gassen. Autos und knatternde Mopeds konkurrieren mit rhythmischer Musik, die aus offenen Fenstern dringt. Wir fahren wieder in Richtung S’Arracó, biegen in holperige Sandpisten ein, die man sich nicht zur Regenzeit vorstellen sollte und landen vor dem Tor eines abgelegenen Grundstücks bei der Malerin Brigitta Nottebohm. Eigentlich wollten wir nur auf ein Glas Wein vorbeischauen. Als wir uns unterm funkelnden, sternschnuppenden mallorquinischen Nachthimmel verabschieden, steht eine beachtliche Batterie leerer Flaschen neben dem Gartentisch, die Katzen spielen mit den Korken. Brigitta ist Österreicherin, vor mehr als 60 Jahren in Salzburg geboren. Sie studierte Kunst in Wien, lebte in Kalifornien, bereiste die Welt, bevor sie 1981 begann ihre Bilder auszustellen. Seit 1987 lebt sie als Malerin in München und auf Mallorca.
In dem charismatischsten der von mir (in nur wenigen Tagen) besuchten Mallorcahäuser wohnt der Geist einer betörenden Vollkommenheit abseits von Luxus und doch unendlich reich. Die selbstverständliche Einbeziehung aller Dinge im und außerhalb des Hauses in den Lebensraum der Malerin verzaubert. Im Ursprung ist das Gebäude, das eigentlich aus zwei Häusern besteht, 300 Jahre alt. Es erzählt auch heute noch die Geschichten aller seiner Bewohner, nicht nur die seiner jetzigen Besitzerin. Brigitta Nottebohm erzählt von ihren Toden. Vor einigen Jahren brannte das Haus ab. Brandstiftung sagt sie und lächelt in sich hinein, als würde sie dabei an eine bestimmte Person denken. Lächelt man, weil man vergeben, oder weil man mit jemandem noch eine Rechnung offen hat? Sie hat das Haus wieder aufgebaut. Ohne Geld. Mit ihren eigenen Händen. Sie gab ein großes Fest für über hundert Leute. Es sollte die Hochzeit ihrer Tochter Julia werden. Die Hochzeit fiel aus, die Feier fand trotzdem statt. Die zierliche schöne Frau steht im farbbeklecksten Arbeitsoverall in ihrem Atelier und zeigt ihre großflächigen, lichtgefluteten, abstrakten Bilder, die vor Gelb, Ocker, Kupfer und erdfarbenen Brauntönen nur so strotzen. Die offene zweiflüglige Ateliertür gibt den Blick in die Landschaft frei, die untergehende Sonne klemmt in einer betagten Palme, deren gelbe Blütendolden fast die Erde berühren. Merkt ihr was, fällt euch was auf, fragt Brigitta. Ja, das Bild auf der Staffelei bildet – abstrakt – genau diesen farblichen Vorgang ab. Hast du keine Angst hier alleine, ist doch ziemlich abgelegen, frage ich. Sie lacht. Nein! Nur Angst, dass es noch einmal abbrennen könnte. Ich hätte die Kraft nicht mehr.
Es ist nach Mitternacht. Harriets Auto fährt uns fast von allein in die Vista Alegre… In der gemütlichen Küche des liebevoll mit architektonischer Raffinesse restaurierten alten Feldsteinhauses mit dem terrassenförmig angelegten Garten, in dem Zitronen- und Apfelsinenbäume farblich mit gelben Fensterläden korrespondieren, steht noch ein Flasche Wein auf dem Tisch. Es ist unser letzter Abend.
Ich überlege, wie viele der Geschichten, die ich – Dank Harriet – in nur 5 Inseltagen von Mallorca-Bewohnern erzählt bekam, wohl an mir kleben bleiben würden. Die Antwort ist: alle. Der nächste Artikel begänne mit dem Engländer Brian Johnson und die Mallorca-Geschichte von Harriet und ihrem Mann, dem Kabarettisten Martin Buchholz, ist auch noch nicht erzählt. Man muss Insekteninvasionen, Überflutungen und weniger irdische Überfälle aushalten, Blessuren einstecken können, bevor Mallorca zurückliebt, sagt Harriet. Aber dann! Es klopft.. Sie öffnet die Küchentür zur Terrasse und bittet den Sternenhimmel herein.