Marokko 2005
Im Juni 2005 gastierte ich mit Jean Pacalet auf Einladung des Goethe-Instituts Rabat in Marokko. Hier ein kleiner Tourneebericht.
„Insch’Allah“ (so Gott will)
Der Mercedesstern auf Fahrid’s altem, klapperigem Statussymbol droht sich in der Mittagshitze zu verflüssigen. Fahrid ist Kraftfahrer und holt Gäste des Goethe-Instituts vom Flughafen in Casablanca ab. Er lenkt seinen Wagen einhändig. Die andere Hand braucht er, um permanent seinen fast kahlen Schädel unter der Baseballmütze zu bearbeiten. Da sind wir also in Marokko, Jean Pacalet und ich, und Fahrid fährt uns ins 100 km entfernte Rabat, wo noch am Ankunftstag ein erster Auftritt auf uns wartet. Hitze steht flirrend überm Asphalt und lässt mich – die Wüste ist weit – Fata-Morganen sehen. Auf meine Bitte hat Fahrid die Klimaanlage eingeschaltet, stellt sie aber – als wir ins Gespräch kommen – wieder ab. Benzin sparen. Mir schwinden die Sinne, mein Blutdruck sinkt, die Hitze, der Stress… Nach einem Konzert am Vorabend in Bremen sind wir noch in der Nacht nach Hamburg gefahren, um ganz sicher zu gehen, dass das Flugzeug am nächsten Morgen um 6.00 Uhr nicht ohne uns abhebt. Fahrid sieht in seinem Rückspiegel, wie die Farbe aus meinem Gesicht weicht und schaltet mitfühlend die Klimaanlage wieder ein. Er erzählt, dass er 7 Kinder hat und dass der Job beim Goethe Institut Rabat nicht sein einziger Broterwerb ist. Ich frage, ob er schon einmal im Ausland gewesen wäre. Sein Französisch ist schlechter als meins, er hat die für ihn nötigen Vokabeln – Wann, Wohin, Wie viel – von seinen Arbeitgebern gelernt. Auf meine Frage antwortet er, dass er 5 x am Tag beten würde, auch nachts um 3 Uhr. Aufstehen, Hände und Gesicht waschen, beten und weiterschlafen. Nein, dafür brauche man keinen Wecker. Das mache die innere Uhr. Beten tut gut, sagt er, lacht übers ganze Gesicht und man weiß nicht, ob sich der Moslem gar lustig macht darüber. Er fährt mit dem so genannten 7. Sinn – den man als Autofahrer in Marokko dringend haben sollte – über die gut ausgebaute (gebührenpflichtige) Autobahn parallel zum Atlantik nach Rabat, dabei bearbeitet seine rechte Hand permanent seinen Schädel, als wäre sie, die Hand, ein Bimsstein. Mit der Melodie von City’s Song „Casablanca“ im Kopf, halte ich Ausschau nach den weißen Häusern, die der Stadt einst den Namen gaben. Ich sehe keins. Dafür Armensiedlungen, sandfarbene Hütten, einen Mann, der wütend auf seinen Esel einschlägt, was dieser stoisch erträgt, Frauen mit Kopftüchern, die Wäsche aufhängen, spielende Kinder, abgemagerte Ziegen, die in sonnenverbrannten, gelben Grasnarben nach was Fressbarem suchen. Fetzen schwarzer Plastikmüllsäcke hängen wie dunkle Vögel in Bäumen, Sträuchern, Telegrafenmasten, wie ich später sehen werde, nicht nur vor den Toren Casablancas, sondern auch in entlegensten Gegenden, wo gar keine Menschen zu leben scheinen. Die Farbe, die sich mir als erste einprägt, ist farblos, oder besser erd- und sandfarben. Alles erdfarben, selbst Menschen und Tiere. Was will ich hier, was mache ich hier?
Konzerte geben in einem arabischen Land in einer – für beide Seiten – fremden Sprache. Das kann (zumal bei meinen Liedern) doch eigentlich nur schief gehen, oder? In einem Buch über die Maghrebländer habe ich gelesen, dass Marokko – an der Grenze zweier Kontinente und Meere gelegen – vor der Entdeckung Amerikas für die Menschen das Ende der Welt gewesen wäre. Das heißt, man lebte in dem Glauben, dahinter käme „das Nichts“. Heute ein faszinierender Gedanke, wo ein jegliches Ende – von Regierungen, Atomkraft, Gesellschaften, Arbeitslosenbezügen, Liebesbeziehungen – vor allem ambivalent zu sein scheint. Was besser ist, im Sinne von erträglicher, überlege ich, am Ende einer bekannten, oder einer verbotenen Welt zu leben?
Marokko ist das westlichste Land der muslimischen Welt und liegt doch nur 14 Kilometer vom europäischen Festland entfernt. Die offizielle Schriftsprache der 26 Millionen Marokkaner ist Neuhocharabisch. Französisch ist die Zweitsprache der Verwaltung und internationalen Kommunikation. Unabhängig von der Analphabetenrate, die immer noch immens ist, sprechen viele Jugendliche aus mittleren sozialen Schichten (aus den unteren sowieso) immer weniger, bzw. kaum noch französisch. Das hat bei einer jungen Bevölkerung – 70 % sind unter 30 – natürlich Konsequenzen. Die Zahl der Frauen, die Kopftuch tragen, wächst. Ob das Erstarken des islamistischen Fundamentalismus in Marokko ursächlich auch auf den 11. September 2001 zurückzuführen ist, bleibt dem Fremden, wie so vieles andere in diesem Land, verborgen. Ich erinnere mich noch gut an die Fernsehbilder der Bombenattentate vom 16. Mai 2003 in Casablanca, wo über 60 Tote zu beklagen waren.
Und da sind wir auch schon in der 630 000 Einwohner-Stadt Rabat, der Regierungshauptstadt Marokkos, angekommen. Das ist die Cité Royale, der Königspalast, sagte Fahrid, der sich als begeisterter Royalist entpuppt. Ein König der Armen ist unser Mohammed VI. Mit seinem Amtsantritt (1999) wäre Marokko eine demokratische Monarchie geworden. Gefangene, selbst politische, wurden freigelassen, ein neues Familiengesetz, das Mann und Frau gleichstelle, gäbe es. Dieses Gesetz wäre so modern, dass es von Teilen der Bevölkerung abgelehnt würde. Unser König ist also fortschrittlicher als sein Volk, lacht Fahrid, wo gibt es so etwas noch? Im Bahnhof von Rabat, im Hotelfoyer, wie auch an und in anderen offiziellen Gebäuden hängen große Bilder der beiden Monarchen, Hassan II., der 1999 starb und seines Sohnes, Mohammed VI. Was ist mit Mohammeds Frau, oder Frauen, frage ich? Sie ist sehr schön, seine Frau, sagt Fahrid. Ja, sage ich, alle Könige haben schöne Frauen, bis vielleicht auf einen zukünftigen in Europa. Pacalet kichert auf dem Beifahrersitz. In der jüngeren Geschichte des Marokkanischen Königshauses hat das Volk noch nie die Frauen eines Monarchen zu Gesicht bekommen. Das hat sich mit Mohammed VI. geändert, eine Revolution in Fahrid’s Augen. Aber keine, die den Menschen hier ein besseres Auskommen garantiert, denke ich. Der gesetzliche Mindestlohn beträgt etwa 180 € und der wird landauf, landab selten eingehalten. Im Hotel angekommen, bleibt gerade mal Zeit zum Kofferabstellen. Dann geht es zur „Fondation Orient-Occident“, wo wir zum ersten Mal auftreten werden.
In der Zwischenzeit ist es Abend geworden. Menschenmassen, Kinder, Alte, Jugendliche, Ehepaare, ganze Familienclans, verstopfen die Straßen um das Gelände der Fondation. Viele Frauen, auch ganz junge Mädchen, tragen Kopftücher. Auf einer Open Air Bühne installiert sich eine arabische Rockband. Ich denke kurz darüber nach, dass es vielleicht besser wäre, etwas Nonverbales zu machen. Hilfe! Was kann ich denn noch? Tanzen, Steppen, Pantomime, Stelzenlaufen, Faxenmachen? Mir fällt nichts ein. Ich verlasse mich auf mein Gefühl. Reden, mit den Leuten reden, denke ich, einfach drauf los quatschen. Wir versuchen einen improvisierten Soundcheck. Der Tontechniker gibt sich große Mühe, kann aber aus seiner Technikkiste nicht mehr rausholen. Immerhin ist unser Auftrittsort ein abgeschirmtes Gelände, eine Art Saal mit Dach und gefliestem Boden, aber ohne Seitenwände. Und da strömen sie auch schon, die Massen, nehmen Platz auf Bänken, Stühlen, auf dem Boden und betrachten die beiden europäischen Weißhäuter. Wohlwollend, wie mir scheint. Dieter Strauss, der Chef des Goethe Institutes Rabat, stellt uns dem Deutschen Botschafter vor. Erwarten Sie hier keine europäischen Konzertverhältnisse, hier geht es orientalisch, arabisch zu, sagt Strauss, der bei allem, was er kulturell anschiebt, initiiert, ausheckt, ein Miteinander seiner europäischen und marokkanischen Partner im Sinn hat. Das Gitarrenmikro funktioniert nicht. Jean versucht, sein Akkordeon vor neugierigen Kinderhänden in Sicherheit zu bringen. Ich denke o.k., da musst du jetzt durch, stelle mich ans Mikrofon und erzähle: wer wir sind, wo wir herkommen, wie man unsere Musik nennt, wie sie entsteht, was ich von Marokko weiß, bzw. nicht weiß, aber gern wüsste… und konstatiere, dass es eigentlich egal ist, was ich hier erzähle, mir hört niemand zu. Oder doch? Ich werde nicht verstanden, nein, nicht akustisch, inhaltlich.
Gut denke ich, dann eben singen: Die ersten Takte erklingen und schon klatschen die Massen im Rhythmus, der eigentlich gar keiner ist, mit. Die Begeisterung will kein Ende nehmen. Was findet hier statt? Woher kommt dieser Enthusiasmus? Ja, bin ich denn Madonna? Das erste Lied ist vorbei, der Applaus verebbt, und schon schwillt der Geräuschpegel wieder an: die Zuschauer reden, lachen, „handy’n“, essen, trinken, kommen, gehen, turnen, pinkeln, singen, rufen. Die 300-Watt-Tonanlage kann gegen diesen Hexenkessel beim besten Willen nichts ausrichten. Ich singe weiter, schließe die Augen und gebe nach einer dreiviertel Stunde auf. Das Publikum gibt sich nicht zufrieden, will Zugaben, trampelt und freut sich. Die meisten Zuschauer – was ich nicht wusste – verstanden so gut wie kein Wort französisch. Die wenigsten der hier Anwesenden haben je eine Schule von innen gesehen, sagte mir eine marokkanische Germanistin danach.
Zu Beginn des Auftritts zückte ich meinen Fotoapparat: Jetzt mache ich Fotos von Euch für meine Freunde in Deutschland, ok?
Dieter Strauss, der Leiter des Goethe Institutes, hatte mich in der Vorbereitungsphase dieser Reise immer wieder darauf hingewiesen, dass er seine (schwierige und überaus zu würdigende!!!) Arbeit vor Ort vor allem als kulturelle „Kontakt-“ und „Ideenbörse“ Marokko-Deutschland verstünde. Und so waren dann auch nicht die Konzerte das Wesentliche dieser Reise, sondern Menschen und Orte, die ich in Marokko traf und kennen lernte. Darüber, nur darüber, will ich erzählen.
Nach dem Konzert am 19.6. im Goethe Institut in Rabat, das meiner europäisch tradierten Vorstellung – ein Künstler singt, ein Publikum hört zu – doch relativ nahe kam, lernte ich Belinda Horst, die in der Deutschen Botschaft in Marokko für Kultur zuständig ist, kennen. Die junge, unkonventionelle Frau kam zu ihrem Job, wie die Jungfrau zum Kind: Ausbildung im Auswärtigen Amt, ein bisschen öffentlicher Dienst, gute Französischkenntnisse, schwupp, war sie in Marokko.
Bei meinen Reisen durchs Land telefonierte sie mir hinterher, um sich nach meinen Eindrücken, vor allem aber nach meinem Befinden nach den Konzerten zu erkundigen. Damit konnte sie bei mir punkten! Eine Diplomatin fragt eine Bürgerin: geht es Ihnen gut in unserem Land, wie kommen Sie zu recht?
Nun also Rabat, die offizielle, nicht aber die heimliche Hauptstadt Marokkos. Geht man durch die Avenue Mohammed V, die durch ihre königlichen alten Spalierpalmen beeindruckt, gelangt man zur Medina. Nach 300 Metern stößt man auf eine Mauer mit einer kleinen Öffnung.
Passiert man die Öffnung, steht man auf einem Friedhof, der wegen der Anlage der Gräber erst einmal irritiert, bis man versteht: alle Grabsteine weisen nach Mekka. Unterhalb des Friedhofs liegt majestätisch der Atlantik. Magnifique, beeindruckend, grandios!
Beim Einchecken im ersten Hotel dachte ich, es wäre ein Zufall, eine der Hektik des Hotelalltags geschuldete Unaufmerksamkeit, aber das Prozedere wiederholte sich auch an anderen Hotelrezeptionen. Warteten mehrere Gäste zur gleichen Zeit auf ihre Schlüssel, wurden Männer, auch wenn sie später gekommen waren, bevorzugt bedient. Ich hatte das Gefühl, dass mir erst dann Aufmerksamkeit zuteil wurde, wenn sich Jean Pacalet in das Gespräch einmischte und klar wurde, dass wir zusammen angereist waren. Einmal ging ich nachts an die Rezeption, um eine Flasche Mineralwasser zu kaufen. Ich erhielt die Antwort, es gäbe kein Mineralwasser mehr. Als Pacalet sich darum bemühte, konnte er eine Flasche kaufen. Zufall? Wie sich herausstellte, war sie präpariert, es war Leitungswasser darin. Der Mann an der Rezeption entschuldigte sich devot, er hätte aus Versehen seine eigene Flasche verkauft. Hätte er sich auch bei mir entschuldigt?
Um Näheres über die Stellung der Frau in Marokko zu erfahren, traf ich mich in Rabat mit Migrantinnen. Wie leben Frauen in bikulturellen Ehen im heutigen Marokko mit der existentiellen Erfahrung der Migration? Natürlich wurden diese Frauen in ihren Herkunftsländern von Freunden vor der Männergesellschaft mit ihrem negativen Frauenbild gewarnt. Und natürlich glaubten diese Frauen an die alles bezwingende, überwindende Kraft ihrer Beziehungen. Was soll man auch machen, wenn man sich in einen Marokkaner verliebt und wenn dieser Marokkaner schwört, in gegenseitiger Achtung und Liebe mit seiner Angebeteten zusammenleben zu wollen? Zum Beispiel Maya. „Sie war aufgebrochen mit der Lust zu Freiheit und Abenteuer und fand sich in einem öden, starren, traditionellen System wieder. Und ihr Mann, mit dem sie zusammen in Liebe ihre Ehe und ihre Familie hatte aufbauen wollen, entpuppte sich als orthodoxer Vertreter seines Systems,“ heißt es in einem Bericht dieser Frauen. Eine andere hatte ihren Mann während des Studiums in Deutschland kennen gelernt. Er wurde für sie ein unbekannter Fremder, als er die gemeinsame 13jährige Tochter, die mit einem Jungen auf der Straße gesehen wurde – was ihm Nachbarn kolportierten – anbrüllte, sie wäre eine Hure und hätte sein Haus zu verlassen. Solche Szenen hätten ihre Ehe absolut in Frage gestellt, sagte die Frau. Sie stellte ihn zur Rede: Warum glaubst du Nachbarn mehr als uns, deiner eigenen Familie? Weil die Nachbarn, genauso wie ihr, auch meine Familie sind, hat er ihr geantwortet. Sie brauchte mehr als ein Jahrzehnt um zu begreifen, dass man die „Spielregeln“ des patriarchischen, arabischen Lebens akzeptieren, sich ihnen aber dennoch nicht unbedingt unterwerfen muss. Eine Französin, die einen Marokkaner geheiratet hatte erzählte, dass sie keine Zugeständnisse mache an ihre marokkanischen Schwiegereltern. Sie rauche, trinke Alkohol, esse Schweinefleisch und toleriere doch auch, dass sich ihre Schwiegereltern attackenartig auf ihre Gebetsteppiche werfen, während sie mit ihrer Familie gerade zu Mittag esse. Ich stellte mir das bildlich vor – die einen schmatzen, die anderen beten – und musste lachen. Nicht alle Frauen, die an unserer Diskussion teilnahmen, lachten mit. Eine Deutsche berichtete, dass die arabische Familientradition dem Einzelnen nach einer starren Rangordnung feste Pflichten zuweist, aus denen auszubrechen zwecklos sei und dazu noch hart bestraft würde. All ihr Enthusiasmus, ihr Tatendrang, sich in diese Gesellschaft, deren Sprachen sie mittlerweile perfekt spricht, einzubringen, verliefen schließlich im Sande. Sie hätte – um ihrer Ehe willen – klein bei gegeben und würde sich, seit die Kinder groß sind, nur noch langweilen. So hofft sie, ihren Mann irgendwann umstimmen zu können, um mit ihm nach Deutschland zurückzukehren. Eine andere, mit einem marokkanischen Ingenieur verheiratete Frau aus Nordrhein-Westfalen, arbeitet in einem deutschen Exportunternehmen als Sekretärin. Nein, sagt sie, ich habe und hatte überhaupt keine Probleme, mich und meine Kinder hier zu integrieren. Mein Mann ist Moslem, ich gehöre keiner Konfession an. Ich fühle mich als deutsche Marokkanerin, wenn Sie so wollen… Was mir hier gefällt, habe ich angenommen, was ich ablehne, muss ich nicht an mich heranlassen. Allerdings – und das ist vielleicht ein Manko – habe ich kaum Kontakt zu muslimischen Frauen, die mich sicher mit Argwohn betrachten. Mein Bekanntenkreis besteht zu 90 % aus Europäern. Ich weiß nicht, wie es mir ergangen wäre, wenn ich in einem kleinen Dorf oder einer Kleinstadt leben müsste. Fragt man die Frauen, ob sie ihre Entscheidung, mit ihren marokkanischen Männern in Marokko zu leben bereuen, erhält man die übereinstimmende Antwort: nein. Das hat mich offen gestanden verblüfft. Ich hätte gern gewusst, welche Antwort wohl ihre Kinder geben würden.
Zug fahren ist nicht sehr teuer in Marokko!
Die Züge, die meistens voll sind, haben Klimaanlagen, es werden Getränke und Sandwichs serviert. Manchmal bleibt der Zug auf freier Strecke stehen und man erfährt nicht, warum. Dann wird die kalte, in den Abteilen der ersten Klasse zirkulierende Luft immer wärmer, bis man schließlich das Gefühl hat, in einer 100-Grad-Sauna zu sitzen. Die Fenster lassen sich nicht öffnen. Aber niemand regt sich wirklich auf, auch nicht über den Schaffner, der keine Erklärung gibt und manchmal kommen die schwitzenden Reisenden dann miteinander ins Gespräch. Auf der Fahrt nach Tanger saßen wir plötzlich über eine Stunde fest. Ich versuchte es mit einem Witz; wahrscheinlich wären die Gleise in der Hitze geschmolzen. Niemand lachte. Mir gegenüber saß eine junge Frau mit Kopftuch, in knöchellangem, dunklem Gewand. Ich fragte sie, ob es ihr nicht zu warm würde. Sie lächelte. Die Plätze an der Tür waren von zwei Marokkanern besetzt, die mal spanisch, mal französisch, mal arabisch miteinander sprachen und offensichtlich von einer Tagung aus Marrakech kamen. Neben mir saß ein hübsches junges Mädchen, nicht einmal 20, das in Salé zugestiegen war. Sie trug Hüftjeans und natürlich freien Bauchnabel, hatte krallenartige, metallicfarbene, aufgeklebte Fingernägel und blätterte in einer arabischen Modezeitung, in der zu 90 % für Produkte geworben wurde, die ich auch kannte. Von Pacalet und mir abgesehen, repräsentierten die 4 Reisenden auf ihre Weise das Marokko von heute – einerseits traditionsbewahrend, andererseits pro westlich. Wir saßen – wie gesagt – fest. Die Klimaanlage hatte ausgesetzt. Es wurde immer heißer. Plötzlich fuhr das junge Mädchen neben mir Jean an, er möge doch seine „Kiste“ vom Fenstertisch nehmen, sie verhindere die Luftzirkulation. Jean versuchte ihr zu erklären, dass es sich um ein Musikinstrument handelt. Sie fauchte: „Sprechen sie bitte arabisch mit mir!“ Kein anderer Fahrgast mischte sich ein. Jean stellte sein Akkordeon auf seinen Sitzplatz und ging raus auf den Gang. Meine Nachbarin sagte etwas auf arabisch. Einverständnis im Abteil, wie mir schien. Sie holte eine Tüte mit Kartoffelchips aus ihrer Tasche und verzehrte sie lautstark. Ich war wütend, wartete einen Moment, bis ich mir die Worte zurechtgelegt hatte und sagte: „Ich will nur mal sagen, dass ich eine Kartoffelchip-Allergie habe. Ich glaube, ich werde gleich kotzen müssen. Jedenfalls kann ich für nichts garantieren.“ Sie stand auf und ging mit ihrer Tüte auf den Gang. Die Frau mit dem Kopftuch gegenüber griente und signalisierte mir Zustimmung. Warum erzähle ich diese Geschichte? Weil sie die Schwierigkeit, das Alltägliche in Marokko zu verstehen, zu erfassen, vielleicht ein wenig erhellt. Nichts ist so, wie man glaubt, dass es ist, oder zu sein hat.
Auf der Fahrt nach Marrakech fährt der Zug durch Palmenhaine. Jemand hat sie gezählt, mehr als 1000 000 Dattelpalmen sollen es einmal gewesen sein. Über hunderte Kilometer sieht man auf eine steinige grau-rote Ödnis und plötzlich wird es grün. Warum?
Und da rückt sie ins Blickfeld, die rostrote Stadt mit ihren grünen Türmen und dem subtropischen Klima. Marrakech ist mit seinen 670 000 Einwohnern die drittgrößte Stadt Marokkos.
Der Orient – orientierte Aachener Akkordeonist Manfred Leuchter, der sich gerade in der Medina von Marrakech ein kleines Refugium geschaffen hat, schleifte uns durch die Märkte und Gassen seiner Wahlheimat – bei gefühlten 40 Grad nicht unbedingt nur ein Vergnügen – in sein Haus. Mir ist schleierhaft, wie er in diesem Labyrinth immer wieder zu seinem Haus zurückfindet.
Im Kofferraum einer verkehrstüchtigen (aber nicht mehr -tauglichen) Marrakech-Taxe fährt immer noch Jeans Koffer spazieren… falls der Taxifahrer nicht doch Verwendung für seine CD’s, Noten, sein Telefonverzeichnis, seine Zahnbürste und seine Wohnungsschlüssel gefunden hat. Vielleicht aber stehen auf dem Markt gerade jetzt marokkanische Musiker und „beminnen“ die Touristen mit Pacalets Kompositionen. Vielleicht. Seine Noten haben sie ja bereits.
Hans Tischleder ist ein charismatischer Kosmopolit. In der Mitte seines Lebens, als Werbechef einer Firma in Frankfurt am Main, kappte er seine bürgerlichen Leinen und ging nach Griechenland. Um dort wovon zu leben????? So etwas fragt man in seinen Kreisen nicht. Er liebt das Mittelmeer. Punkt. Der 63jährige lächelt charmant und schweigt. Er trägt eine Pagenfrisur, dazu in gedecktem grau ein kaftanähnliches Ensemble aus Pluderhose, Poncho und cremefarbene Lederschuhe. So einer könnte der Liebling einsamer, reicher Witwen werden, von denen es in Tanger – hatte ich den Eindruck – viele gibt.
Will man etwas über Marokko, vor allem aber über das Königshaus wissen, kommt man an Tischleder nicht vorbei. Sein Restaurant „LES CITOYENS DE TANGER“ im Zentrum von Tanger, indem sich auch die Galerie „PHOTO DU MAROC“ befindet, strahlt – wie sein Besitzer – eine gewisse feminine Aura aus. Man wird von bildhübschen Knaben, deren gewinnbringendes Lächeln die gepfefferten Preise vergessen lässt, bedient.
Hans Tischleder ist auch der Chef des CENTRE CULTUREL ALLEMAND in Tanger. Er hat unser Konzert im El MINZAH, dem exquisitesten Stadthotel Nordmarokkos, organisiert. Ein Konzert, zu dem über 200 Leute kamen, die er alle persönlich zu kennen schien. Tanger ist eine gastliche Stadt, die aufgrund ihrer geografischen Lage, ihres Nimbus, ihrer Mischung aus christlich-spanischer und islamisch-arabischer Geschichte eine große Anziehungskraft nicht nur auf Touristen ausübt. Bis 1956 herrschten Zoll- und Steuerfreiheit und die Stadt entwickelte sich zu einem kosmopolitischen Handels- und Finanzzentrum. Europäische Dienstleistungs- und Industrieunternehmen ließen sich nieder, aber auch der internationale Rauschgift-, Waffen- und Frauenhandel, sowie große und kleine Nachrichten- und Spionageringe. Die Spanier okkupierten Tanger 1940, mussten es aber aufgrund britischer und französischer Intervention zum Ende des 2. Weltkrieges wieder räumen. Heute residieren die reichsten Saudis auf den schönsten Hügeln der Stadt. Unglaublicher Reichtum existiert neben unglaublicher Armut. Marco Polo, einer der bedeutendsten Forschungsreisenden des Mittelalters, wurde in Tanger geboren. Die Stadt hat etwas Verruchtes, Verbotenes, Gefährliches, dass sich dem Fremden besonders dann offenbart, wenn die Lautsprecher auf den Dächern der Moscheen zum Gebet rufen, während sich die High-Society in den Straßencafés, Bars, Nacht- und Sextempeln vollaufen lässt. Inmitten des Konzerts im EL MINZAH ertönte ein Ruf aus dem Publikum: „Sing mal was von Brecht, bitte, einen deutschen Song von Brecht.“ Die wiederholt vorgetragene militante „Bitte“ kam von einem Maler, einem Franzosen, der seit Jahrzehnten in Tanger lebt und sich damit brüstete, dass noch nie ein Mensch ein Bild von ihm zu Gesicht bekommen hätte.
In Tanger zu leben, sagte er, bedeute zu saufen und Leute ausfindig zu machen, die es bezahlen. Er lachte und verschwand.
Nach dem Konzert begleitete uns eine Zuschauerin in das Restaurant des Hotels.
Eine Deutsche. Sie war aus dem Vogtland, hatte in den 80er Jahren in Leipzig arabische Sprachen studiert und arbeitet für den Deutschen Akademischen Austauschdienst in Tanger. Ich bat sie, mir ihr Leben auf Arabisch zu erzählen. Es klang wunderschön. Ich habe nichts verstanden. Bis vielleicht auf: Es geht mir gut in Marokko, doch manchmal habe ich Sehnsucht nach dem Vogtland meiner Kindheit.
Den nächsten Abend verbringen wir mit Hans Tischleder. Er zeigt uns Fotos, die ihn mit der Lieblingstante des Königs, Prinzessin LALLA FATIMA AL ALAOUI, Tochter des Sultans von Marokko, zeigen. Er gerät ins Schwärmen, wenn er den Stammbaum der Königlichen Monarchen Marokkos herunterbetet und bemerkt nicht, dass seine Gäste gar nicht mitkommen. LALLA FATIMA war höchst liberalen Geistes und Präsidentin aller Frauenorganisationen Marokkos und schließlich eine Kämpferin für die fortschrittliche Entwicklung der Rechte der Frauen in der islamischen Welt, sagt Hans ganz ohne Ironie. Ich lächle und schweige. Und mache es genauso, wie die Muslimin, die mir im Zug nach Tanger gegenübersaß.
LALLA FATIMA lebt nicht mehr.
Ein verschwitzter Mittvierziger mit seinem 16jährigen Sohn betritt das Lokal. Er umarmt Hans Tischleder, ruft: comme d’habitude und erhält zweimal Schnitzel mit Pommes. Hans stellt uns einander vor. Der Mann ist Deutscher und Generaldirektor des VW Kabelwerkes in Tanger. Gerade ist er mit einem Transporter aus Deutschland angekommen, wo er den Hausrat seines Sohnes aus erster Ehe – die Mutter ist gestorben und er wird den Sohn jetzt zu sich nehmen – abgeholt hat. Ich bin Heinrich, sagt der stämmige Mann und gibt mir die Hand. Grad angekommen, 48 Stunden ohne Pause auf der Piste gewesen. Ja, bemerkt sein Sohn, mit durchschnittlich 180 Sachen und drei superwichtigen Diensttelefonaten pro Stunde. Der Mann spricht exzellent französisch und erzählt, dass er die Strecke von Deutschland über Frankreich und Spanien mit der Schnellfähre über die Straße von Gibraltar nicht zum ersten Mal gefahren ist. Am kommenden Wochenende will er nach Hause. Wo ist das, frage ich. Kommen Sie da nicht gerade her? Nein, Deutschland ist schon lange nicht mehr mein Zuhause, und wird es hoffentlich auch nicht wieder werden, lacht er. Ich lebe in Tunesien, da wohnt meine Familie. Hans ergänzt: Seine rumänische Frau mit ihren beiden Kindern aus deren erster Ehe. Na, das geht ja bei Euch sehr international zu, sage ich. Heinrich erzählt, dass er jeden Freitag mit dem Auto nach Casablanca – er sagt Casa – fährt, um von dort mit dem Flugzeug nach Tunis zu fliegen, zu seiner Familie. Der Sohn fixiert den Vater, während der französisch spricht und baut – als wären es Lego-Steine – aus Pommes Frites ein Fragezeichen neben seinem Teller. Er spricht kein französisch und wird bis zu seiner Neueinschulung in Tanger durch einen Privatlehrer auf die neue Situation vorbereitet. Mit 16, als Halbwaise, mitten in der Pubertät, wird er mit einem neuen Leben konfrontiert. Sein Schulenglisch nützt ihm in Marokko wenig. Er wird arabisch, französisch und sicher auch spanisch lernen müssen, sagt der Vater, mehr beiläufig. Der kennt und liebt die Maghrebländer und könnte sich kaum vorstellen, wo anders zu leben. Wieso bleibt Volkswagen mit seiner Fabrik denn in Marokko? In Rumänien z.B. könnte man doch sicher noch billiger produzieren, sage ich etwas provozierend. Sicher, sagt der Mann mit einem kaum zu topenden Selbstbewusstsein. Wir sind ja auch im ehemaligen Ostblock vertreten. Aber solange ich das Werk hier leite, wird es nicht geschlossen, dafür garantiere ich. Ich habe über 2.000 Frauen im Betrieb, die arbeiten nach hiesigem Standard unglaublich effizient. Und wie schaffen Sie das, frage ich? Der Mann mit dem sympathischen Lachen bestellt sich noch ein gutes marokkanisches Bier. Jetzt sieht man ihm die Strapazen der letzten 3 Tage an, er wirkt abgespannt. Weil sie bei mir gutes Geld verdienen. Und weil – Islam hin, Islam her – die Produktion vorgeht. Bei mir wird nur einmal am Tag gebetet. Wer das begriffen hat und danach handelt, hat bei mir alle Chancen der Welt. Der Sohn malt ein Bett mit einem Fragezeichen auf die Zigarettenschachtel des Vaters. Die beiden verabschieden sich. Das sind Lebensläufe, sage ich zu Hans und muss immer wieder an den Sohn denken. Wie wird er sich entwickeln und was würde er – könnte ich ihn in 7 Jahren einmal befragen – über diese erste Entwurzelung seines Lebens sagen?
Über Asilah, die kleine Stadt am Atlantik, will ich noch erzählen.
Seit der Gründung des internationalen Kulturfestivals von Asilah 1978 zieht es viele Touristen in die verschlafene Kleinstadt. Die 24.000 Einwohner – das merkt man als Besucher sofort – scheinen einen anderen Blick auf ihre Stadt, ein anderes Gemeinschaftsgefühl entwickelt zu haben. Asilah präsentiert sich herausgeputzt.
Hans sagt, das läge an MOHAMED BENAISSA, dem ewigen Bürgermeister Asilahs. Er war Kulturminister unter Hassan II., dann viele Jahre Marokkos Botschafter in den USA und ist heute Außenminister. Sein Bürgermeisteramt in der kleinen Stadt hat er nie aufgegeben. BENAISSA hat seine Stadt im Griff. Die Häuser werden alle Jahre weiß getüncht, die Türen und Fenster grün, türkis oder blau gestrichen. Man munkelt, BENAISSA besorgt die Farbe bei der Einehandwäschtdieanderemafia und lässt sie vor die Türen der Bewohner stellen. Zerfetzte schwarze Plastiktüten sieht man nirgends. Die urige Medina aus dem Mittelalter liegt geschützt hinter einem wuchtigen portugiesischen Wall aus dem 16. Jahrhundert. Überall trifft man auf Spuren der einstigen wechselnden Eroberer.
Wieder habe ich extrem schlecht geschlafen. Und das in einem 5 Sterne-Hotel. Wenn man von der Rue de la Liberté, auf der das arabische Leben pulsiert, ins Hotel EL MINZAH eintritt, passiert man einen kleinen unauffälligen Sicherheitscheck. Hans bemerkt meinen Argwohn. Nein, deshalb muss man die Straße nicht umbenennen…
Von meiner Zimmerterrasse kann ich auf den südlichsten Zipfel Europas schauen. Tief durchatmen, genießen und warten, bis sich das Glücksgefühl einstellt. Ich wartete. Luxus ist kein Garant für Wohlbefinden.
Vielleicht war diese mich psychisch und physisch fordernde Reise ja deshalb so anstrengend, weil sie – anders als erwartet – auch eine Reise zu mir selbst wurde.
Mit Grippe, Bronchitis und total heiser, nein, stumm, so dass ich mich nicht mehr bei Dieter Strauss bedanken konnte, trat ich den Rückflug an. Will ich noch einmal nach Marokko? Die Antwort ist – ich denke an die Migrantinnenfrauen – Ja! Aber vielleicht dann noch als Touristin.
Warum wurde ich eigentlich krank?
Pacalet sagt, ganz klar: weil ich Kamele geküsst habe…