Savoie – Serpentinen des Lebens

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Reinhold Messner sagt: Wer hoch hinauf steigt tut das, um tief in sich hinein zu sehen. Im Herbst 2010 führten mich Konzerte in die französischen Alpen, Pyrenäen und den Vercors. Wandern, Skifahren, Bergsteigen – alles nicht mein Ding. Ich habe Angst vor Abgründen und kann Täler nur von unten genießen, nicht die Draufsicht. Gut, dass ich mich während der mehrwöchigen Reise auch ab und an an Menschen festhalten konnte, die hoch oben zu Hause sind. Mir liefen Geschichten zu, die ich nicht für mich behalten möchte. Eine hat sogar mit meiner Familie zu tun.

Serpentinen drehen sich drei Mal um den Hals. Gleich kippen Berg und Auto mit mir vorn über. Hoffentlich bleibt alles im Magen. Die rechte Hand zerrt an der Handbremse, es gibt, so scheint’s, kein vor und erst recht kein zurück mehr. Noch acht Runden bis zum Ziel. Von wegen: Schönheit der Berge!

       Mont Granier

 

Wir sind in der Savoie – Französische Alpen – auf dem Weg zu Familie Marechal. Ihr Chalet savoyard (Wohnhaus in den Bergen) liegt 1.200 Meter hoch im zwölf Hektar kleinen Weinberg „P’tiou vigneron“, den die Marechals in der dritten Generation bewirtschaften. Hier reift der „Apremont Abymes“. Jean-Francois und Nathalie Marechal leben gern hier oben. Wenn sie aus dem Haus treten schauen sie auf einen gewaltigen Sandsteinkoloss, den Mont Granier, 1.933 Meter hoch. Ein Damoklesschwert, das seit Jahrhunderten über Weinbergen und Dörfern schwebt.

Im November 1248 brach die „Nase“ vom Granier ab. Ohne Vorwarnung. 500 Millionen Kubikmeter Geröll – nur ein Prozent seiner Gesamtmasse – stürzten, alles platt walzend was sich im Weg befand, ins Tal.

Statue der schwarzen JungfrauVor dem Kirchlein mit der Statue der schwarzen Jungfrau im Dorf Myans stoppte die Gesteinslawine. Ein Mirakel, das Papst Pius X. 1905 veranlasste, die Jungfrauenskulptur heilig zu sprechen. Was für ein Gott, denkt sich die Ungläubige, ich, der 70 cm geschnitztes Ebenholz vor der Zerstörung bewahrte, Tausende Menschen, Häuser, Vieh und bestellte Äcker aber unter der Gesteinslawine begrub? Emile Decoux, Alpinist und Katholik lacht: Das Wunder ist, sagt er, Stein rollt nun mal nicht bergauf. Hinter der Kirche beginnt der nächste Berg. Familie Marechal lebt gefährlich nah am lädierten Fels-Koloss, in dem eine Zeitbombe tickt. Geologen haben den Granier untersucht. Das enorme Abschmelzen der Schneekuppen in den hohen Alpen – der Mont Blanc ist nur 80 km Luftlinie entfernt, zwingt das Gestein der niederen Alpen, also auch die Chartreuse, wie das voralpine Gebirgsmassiv im Département Savoie heißt – zur Aufnahme von zu viel Wasser.

Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht, oder der Sandstein schluckt so lange Schmelzwasser, bis er zerbröselt und zu Tal stürzt.Felskoloss

Es ist Mitte September. Die Weinbauern begutachten ihre Trauben und sammeln schmarotzende Vipern an den Rebstöcken ein – in Alkohol eingelegt hier ein Bretterknaller, der die Wartezeit bis zur Weinernte verkürzen hilft. Jeder Tag Sonne kann für die Qualität des Weines entscheidend sein.

Chambéry, die Hauptstadt der Savoie, ist eine überschaubare Metropole mit einem prächtigen Theater, das die maßstabsgetreue Miniaturausgabe der Mailänder Scala darstellt. Irgendwie hatte die Gegend an der Grenze zu Italien und der Schweiz schon immer eine Gefühlsschlagseite in Richtung Italien gehabt. Hier gibt es die besten Pasta- und Polenta-Gerichte von ganz Frankreich, zu dem die Savoie erst seit 150 Jahren gehört.

Chambéry
ElephandretFolgt man den Touristenströmen, die Chambéry täglich heimsuchen, so findet man sich schnell vor einem Denkmal mit vier indischen Elefanten im Zentrum der Stadt wieder, das der Graf de Boigne 1838 seiner Heimatstadt zum Gedenken an sich selbst spendierte. De Boigne war als Militärberater in Indien zu Geld gekommen. Daran erinnert nun seit 172 Jahren seine Elefantenfontäne, „Fontaine des Éléphants“, geschmackloser Kitsch, den die Chambéryens, also die Chambéry-er, „Les Quatre sans cul“, „Die Vier ohne Arsch“ nennen. Wenn sich in Chambéry Freunde verabreden, klingt das in etwa so: Wollen wir uns um 18.00 Uhr treffen? O.k.! Wo? An den vier Ärschen!

ElephandretNur ein Elefant, ein kompletter, „Elephandret“, tanzt seit 2007 in der Festivalstadt Avignon auf seinem Rüssel. Nicht vor dem Theater, Zoo, Zirkus, nein, auf der „Place du Palais“, direkt vor den Papstpalästen. Sein Schöpfer, Miguel Barceló, ist Mallorquiner und ganz offensichtlich Vertreter der Kunst-gleich-Spaß-Fraktion.

Zwischen der grauen Fassade des mächtigsten Feudalschlosses seiner Zeit und dem Barockpalast des einstigen „Hôtel des Monnaies“ glänzt ein Bronze-Elefant in der Sonne, der allen Gesetzen der Schwerkraft zuwider, ein filigranes Kunststück vollbringt. Kein Jungfrauenbrunnen, kein in Marmor gehauenes Ringelrein der sieben französischen Päpste, die einst Rom aushebelten, be-kunstet dieses Platz. Nein! ein auf seinem Rüssel tanzender Elefant! Ich dränge mich zwischen die Touristen nah an den Koloss heran, betaste seine filigrane Bronze-Haut und gehöre augenblicklich zu einer Gruppe fremder Menschen, die das Gleiche tut und lacht. Was für ein Unterschied zwischen Kunst auslachen und durch Kunst lachen und doch ist es dasselbe Lachen.

Theater des Hundes, der rauchtAvignon ist voller Touristen an diesem 20. September 2010 und doch lange nicht so überfüllt wie beim alljährlichen Theaterfestival im Juli, wo jeder Quadratmeter der Stadt zur Projektionsfläche für Künstler wird. In einer Seitenstraße hinter der Stadtmauer liegt das „Théâtre du chien qui fume“, „Theater des Hundes, der raucht“, das seinen Ruf als französisches Mekka der Live-Performance und Wiege der Schöpfung seit Jahrzehnten erfolgreich verteidigt. Wer in dem unscheinbaren Haus mit ebensolchem Budget spielen darf, ist fortan geadelt. Im Damenklo steht mit Lippenstift an der Tür: „assieds-toi, tu vas me comprendre“, L’Art, setzt dich, du wirst mich verstehen, die Kunst.

VercorsAm nächsten Tag brechen wir früh auf. Es geht in den Vercors, ein wilder Gebirgskamm mit mehreren Zweitausender Gipfeln im Département Isère und Drôme im äußersten Westen der französischen Alpen. Hier verläuft die Grenze zwischen dem alpinen und dem mediterranen Frankreich. Hier wachsen Edelweiß und Lavendel einträchtig nebeneinander, hier fanden 1968 die olympischen Winterspiele statt. Im kleinen Theater „L’Anecdote“ in Autrans in 1.400 Metern Höhe, erwartet uns Beatrice, für die dieses Panorama alltäglich ist.

VercorsErst in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde der Vercors durch aufwändige Ingenieurleistungen für den Straßenverkehr zugänglich gemacht. Viele Pässe sind das Resultat gezielter Felssprengungen, was die Felsen den Ingenieuren noch heute mit unangekündigten Steinschlägen übel zu nehmen scheinen. Der Vercors war im 2. Weltkrieg ein wichtiges Zentrum (Versteck) der französischen Résistance. Noch heute gibt es Klöster und Einsiedeleien, die im Winter nur zu Fuß erreichbar sind. Hier hat Béatrice Arbet eine alte Feldsteinscheune erworben, in die sie ein kleines Theater einbauen ließ. Getreu dem Motto: wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, muss der Prophet zum Berg kommen, lädt sie ihre Künstlerfreunde, darunter nicht wenige Stars der französischen Chansonszene, ein.

Die blauen StühleDie wissen, dass sie in der L’Anecdote nicht das große Geld verdienen, obwohl die Aufführungen an diesem theater-un-wirtlichen Ort meistens ausverkauft sind. Ich lernte nach dem Konzert einen Besucher kennen, der 60 km gefahren kam, obwohl sein Haus nur drei Kilometer Luftlinie entfernt liegt. Dazwischen liegen zwei Schluchten, die er Täler nennt, die die Straßenbauingenieure offensichtlich nicht zu verbinden wussten. Wer keinen Platz mehr im Theater bekommt, kann zumindest im Sommer vor der Tür auf einem der blauen Wartesaal-Stühle mithören, was drinnen passiert und dabei das Panorama der Berge genießen.

CarcassonneÜber Carcassonne, „die befestigte Stadt“ über dem Tal der Aude, 43 vor Christi gegründet, fahren wir weiter nach Montpellier, wo das „Maison de Heidelberg“ (Centre Culturel Allemand) zu Konzerten anlässlich der deutschen Woche einlud. Einer Umfrage unter jungen Franzosen zufolge ist Montpellier die heimliche Hauptstadt Frankreichs. Die Metropole der Region Languedoc-Roussillon am Mittelmeer hat seit Jahren einen respektablen Bevölkerungszuwachs. Montpellier ist die drittgrößte Studentenstadt Frankreichs. Eine junge, quirlige, strahlende Stadt im vibrierenden Licht des Südens.

MontpellierIm Labyrinth der historischen Altstadt ist schon mancher Ortsunkundige verloren gegangen. Man ist versucht Türen zu öffnen, Läden zu betreten, Leuten zu warnen, die sich halsbrecherisch weit aus ihren Fenstern heraus lehnen, die es gar nicht gibt, denn es handelt sich um kunstvoll ausgeführte Fassadenmalereien.

kunstvoll ausgeführte FassadenmalereienAuf dieser Fassade spiegelt sich die gegenüberliegende Kirche – alles gemalt!

Hans Demes und Jean PacaletDer Direktor des Heidelberg-Hauses, Hans Demes, ist ein brillanter Redner, Geniesser, passionierter Stadtführer. Ob er sich vorstellen könne, irgendwann nach Deutschland zurück zu gehen, wollte ich wissen. Sein kategorisches Nein bestätigt meine Theorie: die französischsten Franzosen haben sehr oft einen deutschen Pass.

Hans Demes und Jean Pacalet in der Altstadt Montpellier

Wir fahren zum „Platz des 20. Jahrhunderts“, „La place du XXième siècle“, ein Denkmal, umstrittener, als es der Karl-Marx-Kopf in Karl-Marx-Stadt-Chemnitz je gewesen sein mag. Quasi auf der grünen Wiese, im Vergnügungspark und Neubaugebiet „Odysseum“, erwarten vier Meter hohe Bronzereinkarnationen berühmter Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts (Frauen sind keiner darunter) ihre Besucher: Wladimir I. Lenin, Winston Churchill, Franlin D. Roosevelt, Jean Jaures, Charles de Gaulle. Noch nicht aufgestellt, aber vorgesehen, Mao Tsé-toung.

sav_img_18a sav_img_18b Wladimir I. Lenin, Franklin D. Roosevelt, Charles de Gaulle

Wladimir I. Lenin, Franklin D. Roosevelt, Charles de Gaulle

Die Besucher sind ratlos. Was ist das? Kunst ist es jedenfalls nicht. Bronzepuppen zwischen Mac Donalds- und Hennes & Mauritz–Filialen? Warum nicht gleich Max und Moritz? Fast Food Kunst für die Bewohner der Banlieues? Georges Frêche hieß der Politiker, der das Panoptikum aufstellen ließ. Er ist im Oktober verstorben. Wie die Menschen mit diesem „Nachlass“ leben, wird sich zeigen.

Weil Montpellier die Geburtsstadt von Juliette Greco (1927!) ist, entschied ich mich, mein Lied „Souper mit Juliette“ ins Programm aufzunehmen. Der Song entstand nach einem gemeinsamen Abendessen mit der Grande Dame des Chansons beim französischen Botschafter in Berlin vor ca. sieben Jahren. Wir waren nur sechs Leute am Tisch, es wurde viel geredet über das gute alte Chansons und das junge neue Berlin seit der „Réunification Allemande“, der Wiedervereinigung Deutschlands. Erst gegen Ende des Abends bemerkte Madame Greco, dass da noch jemand am Tisch saß. Ich. Es folgte ein kleiner Schlagabtausch, den ich in meinem Lied folgendermaßen verarbeitet habe:

…sie fragt mich auf einmal:
Sind Sie auch Künstlerin?
Oui Madame, ich bin Chanteuse in Berlin, Allemagne orientale!
Sie lacht:
Ob man vom Osten überhaupt noch reden kann?
Und ich sage:
Nun Saint-Germain-des-Prés mit Sartre im Café
ist auch schon längst passé!…

EusWir fuhren in die Pyrenées Orientales, die es im Gegensatz zu „Allemagne Orientale“ wirklich gibt. Über Béziers, Narbonne, Perpignan führte uns unser Weg nach Eus – französisches Katalonien – Nahe der spanischen Grenze. Hier veranstaltet die Boris-Vian-Fondation jedes Jahr das kleine, feine Festival: „Les Nits de Canco i de Musicà.“ Wie Schwalbennester hängen die Häuser am Berg. Schicht für Schicht auf Felsvorsprünge gebaut, winden sie sich von 244 auf 1143 Meter in die Höhe. Ganz oben steht die Kirche Saint Vincent, die nur durch einen Durchbruch im Felsen zu betreten ist. Eus darf sich: „Un des plus beau Village classé de France “, eines der schönsten Dörfer Frankreichs nennen, ein Gütesiegel, das landesweit nur 200 Orten zuteil wurde. Als wir am 26. September die Serpentinen hinauf zum Festspielort genommen hatten, saß die Crew in der Mittagssonne beim Essen auf der Terrasse. Von gegenüber grüßte der heilige Berg der Katalanen, der Canigou. Mit 2.784 Metern bei weitem nicht der höchste Gipfel in den Pyrenäen.
der Canigou

Canigou
Jacques Canetti, der Mann mit der Spürnase fürs französische Chanson, Impresario, Förderer und Manager von Jacques Brel, Georges Brassens, Serges Gainsbourg, Jacques Higelin, Claude Nougaro, Boris Vian und vielen anderen, hat das zerfallene Bergdorf Eus über dem Tal „des Têt“ in den 50er Jahren entdeckt und Freunde überzeugt, sich dort niederzulassen. Heute ist das Dorf ein Schmuckkästchen mit internationalen Namen an den Haustüren. Grundstücke im Sinne von Landbesitz gibt es keine. Die Grundrisse der Häuser sind die Grundstücke. Manche Hausbesitzer haben dem Berg Terrassen abgetrotzt, hinter manchen Häusern gibt es in den Berg gehauene Grotten, mache Häuser sind gar Grotten. Jeder Meter Fels ist behauen und irgendwie nutzbar gemacht.

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Im Casa Pascuala am Ende des Dorfes vor einer tiefen Schlucht, befindet sich der Nachlass des 1959 gestorbenen Dichters, Romanciers, Sängers, Trompeters Boris Vian. Der „Prinz von Saint-Germain“ und melancholische Rebell hat Eus nicht kennen gelernt, aber Ursula Vian, seine zweite Frau, lebte bis zu ihrem Tod im Januar 2010 in dem märchenverwunschenen Anwesen auf einer Felsklippe, das heute die „Fond’action Boris Vian“ beherbergt und von ihrem Präsidenten, dem alten Monsieur D’Déè, bewohnt und bewacht wird. Die in sich verschachtelten Räume mit Stiegen, Balkonen, Terrassen, Grotten und Brücken drohen irgendwann samt der sie umlagernden Katzenfamilien von einem Mittelmeersturm vom Fels gefegt zu werden. Die Sommer kann man sich hier paradiesisch vorstellen, die Winter kaum. Der raumeinnehmende Tisch sieht aus, als wäre an ihm „Der Schaum der Tage“ entstanden, nein, Vian schrieb den Roman in Paris, schäumende Getränke sind an dieser Tafel sicher geflossen. Nach meinem Konzert in Eus kam eine distinguierte alte Dame zu mir. Ich bin Janine, sagte die wohl älteste Besucherin des Abends. Ich wusste, dass diese Begegnung auf mich zu kam und hatte deshalb Lampenfieber.

„…Schon 1934 fuhren Pitt und Yvès Krüger als erste Vorposten auf die „Mas de la Côume“ in die Pyrenäen und begannen die schwere, entsagungsvolle Arbeit auf der seit einem Menschenalter verlassenen Farm. Ihr Töchterchen Janine, gerade drei Jahre alt, ist ein Wildfang, das mich an ein Raubtier erinnert. Antiautoritär erzogen, streift sie Tag für Tag völlig frei mit ihrem Hund Maroûf, einer greulichen Dorfpromenadenmischung durch das riesige Gelände und stellt dabei tausend Dummheiten an….“

Das steht in einem unveröffentlichten Manuskript meines Vaters, in dem seine Emigration in Frankreich, die ihn in den Jahren 1935 – 1939 auch in die Pyrenäen führte, viel Raum einnimmt. Der „drei Jahre alte Wildfang Janine“, das Kind, das 1936, als das Foto entstand, von einen deutschen Emigranten am Arm gehalten wird, der dreizehn Jahre später mein Vater wurde, stand nun als achtzigjährige Frau vor mir. Man schämt sich nicht, für einen solchen Augenblick den Begriff vom „Mantel der Geschichte, der wehte“, zu bemühen.

Verlassene Farm „Mas de la Coûme“ Als Landeroberer in den Pyrenäen Yvès und Pitt Krüger mit Tochter Janine Krüger und Werner Thalheim 1936

Verlassene Farm „Mas de la Coûme“ bei Mosset,von den Quäkern politischen Emigranten zur Verfügung gestellt.Als Landeroberer in den Pyrenäen Yvès und Pitt Krüger mit Tochter Janine Krüger und Werner Thalheim 1936

Durch Vermittlung von englischen Quäkern kam mein Vater, der bereits zwei Jahre in Afrika in der Emigration gelebt hatte, 1935 auf die Farm von Janine’s Eltern, die ebenfalls aus Deutschland fliehen mussten. Die Religionsgemeinschaft der Quäker kaufte in den 20er und 30er Jahren verlassene Bauernhöfe in den Pyrenäen auf um sie Flüchtlingen zur Selbstversorgung und Überlebenshilfe zu überlassen. So auch die „Mas de la Coûme“, ein Einzelgehöft, 800 Meter hoch versteckt in den Bergen über dem Ort Mosset, in unmittelbarer Nähe des Dorfes Eus wo ich, die einzige Tochter meines Vaters, 75 Jahre später im September 2010 ein Konzert gab.

Schülercamp für Kunst und NaturAm nächsten Tag fuhr ich die Serpentinen eines schmalen Schotterweges hoch auf die „Coûme“, heute die „Fondation Krüger“, ein internationales Schülercamp für Kunst und Natur. In den Aufzeichnungen meines Vaters steht auch, wie er tagtäglich um 6 Uhr früh die Milch der beiden Kühe zum Verkauf ins drei Kilometer tiefer gelegene Dorf Mosset getragen hat. Zwei Bottiche mit je 30 Litern zu Fuß auf einem stark abfallenden Schotterweg, den ich gerade – meine Höhenangst bekämpfend – hinauffuhr. Ich wollte sehen wie mein Vater gelebt hat da oben. Doch die „Mas de la Coûme“ verrät heute – zumindest visuell – nichts mehr von ihrer einstigen Geschichte. Seine Entdecker, das Pädagogen-Ehepaar Pitt und Yvès Krüger, waren in den 20er Jahren an der Reformschulbewegung der Weimarer Republik beteiligt. Der Sozialdemokrat Pitt Krüger wurde im Januar 1933 von der Gestapo mitten aus dem Unterricht seiner Potsdamer Schule geholt und entlassen. Er zog mit seiner (mit Janine!) schwangeren Frau in ein Zelt im Wald. Als der Winter nahte, musste ein Lösung her. Sie hieß Emigration, „Mas de la Coûme“ im französischen Katalonien in den Pyrenäen. Aber auch hier gab es kein Entkommen vor den Nationalsozialisten. 1944 wurde Pitt Krüger verhaftet und nach Deutschland ausgeliefert. Er landete im Volkssturm gegen Russland und in russischer Kriegsgefangenschaft, wo ihm niemand glaubte, dass er ein Widerstandskämpfer war. Mein Vater hatte ein ähnliches Schicksal. Er verließ die Coûme 1938 und ging nach Paris, wo er verhaftet und ins KZ Dachau verbracht wurde. Beide Männer überlebten ihre Martyrien und waren bis zu ihrem Tode in Kontakt. Warum mein Vater nicht noch einmal an den Ort in die Pyrenäen zurückkehren wollte, der ihn fast zum Bauern gemacht und seine tiefe Naturverbundenheit mit begründet hatte, habe ich nicht verstanden. Genauso wenig wie die Tatsache, dass er mir fast nichts über seine Emigrationszeit erzählte. Vielleicht gibt es neben der genetischen auch eine soziale Vererbung. So gesehen wäre meine in den 90er Jahren erwachte „Francofolie“, mein Interesse an Frankreich, auch etwas, das ich durch ihn erhielt und in seinem Sinne weiter verfolgen muss.

Wir fuhren weiter nach Pau, die Geburtsstadt Heinrich IV., von wo aus man den Atlantik – nur 100 km – förmlich riechen kann. Dort spielten wir am 3. Oktober zu einem ganz und gar „Französischen Tag der Deutschen Einheit“. Mein Kollege Musiker, Jean Pacalet, hörte zum ersten Mal Festtagsreden über die friedliche Revolution Deutschlands in seiner Muttersprache und kann nun getrost davon ausgehen, dass die deutsche Teilung eigentlich von Franzosen beendet wurde.

Vorbei am Zwergstaat Andorra ging es an die Côte Vermeille ans Mittelmeer. Zwischen Perpignan und Cerbère, dem letzten französischen Ort vor der spanischen Grenze, ist die zerklüftete Küste von unbeschreiblicher Schönheit. Im Hafen von Collioures, gegenüber der alten Wehrkirche Notre-Dames-des-Anges war nun endlich Zeit für das seit Wochen ersehnte „Bad“ in Fruits-de-mer.

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An Weinbergen, Olivenhainen, Mimosenfeldern und Feigenkaktus-Plantagen vorbei fuhren wir die Küstenstraße hinauf zum „Hôtel le Catalan“ in Banyuls sur mer. Warum Großstädtern der Anblick des freien Meeres immer wieder so ins Gemüt fährt, frage ich mich beim Betreten meines Zimmers. Die Antwort kommt prompt mit Charles Trenet’s berühmtem Chanson „la mer“ aus dem Radio.

Weißt du, dass die Agave auch Jahrhundertpflanze heißt, auf englisch „Century Plant“, fragt Pedro Soler. Sie blüht nur ein einziges Mal und braucht dafür mehrere Jahrzehnte. Dann gibt sie all ihr Wasser an ihre Blüte ab und stirbt. Er führt mich an eine 6 Meter hohe blühende Agave vor seinem Haus in den Pyrenäen über dem Dorf Banyuls am Mittelmeer. Pedro Soler und seine Frau Madeleine leben in einem sehr alten Haus inmitten von Olivenbäumen. Wir essen Fischsuppe und reden über die Improvisation in der Musik, eigentlich aber reden wir über den Flamenco. In einer Voliere zwitschern zwei afrikanische Edelpapageien, französisch: „Les Inséparables“, „ Die Unzertrennlichen“, die sich ohne Unterlass beschnäbeln und dabei einen gewaltigen Radau machen. Trennte man sie auch nur für kurze Zeit – sie würden sterben. Ein symbolisches Geschenk? Ich traue mich nicht danach zu fragen.

Pedro SolerPedro Soler bei einer Session nach dem Konzert in EusDas Haus von Pedro und seiner Frau war schwer zu finden. „Immer den Serpentinen nach und an den großen Agaven, rechts hoch, da wohnen wir“. Das Auto wurde zum Korkenzieher, der sich mit jeder Kurve weiter in den Berg hinein drehte. Agaven Allerorten und alle groß. Irgendwann ging es nicht mehr weiter. Wir waren auf dem Gipfel angekommen. Schau, dort ist Spanien, sagte der Franzose begeistert.

Ich bekam Panik, stieg aus und hangelte mich am Berg entlang nach unten, während der Wagen rückwärts Kurve für Kurve bis zum Haus von Pedro Soler hinunter rollt. Mit dem Franzosen am Steuer, versteht sich. Der Abend in Banyuls wurde lang und endete Anfang November in der Berliner Passionskirche, wo die Flamenco-Legende Pedro Soler (gemeinsam mit der Tänzerin Conca Vargas und dem Cellisten Gaspar Claus) ein umjubeltes Konzert gab. Was echter Flamenco ist, weiß ich jetzt. Ich kann es – wie auch Pedro Soler – nur nicht erklären. Im Roussillon geht die Sonne unter, der Rotwein tanzt im Glas zu Pedros Flamenco-Gitarre, die “Unzertrennlichen” haben sich müde gezwitschert und irgendwo da hinten im Meer liegt Korsika und wartet auf mich. Momente des Glücks. Aber Glück ist immer nur Sehnsucht.

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