Singen im Kosovo
Ende Januar 2003 gastierte ich mit Jean Pacalet in Prishtina. Wie es zu dieser Einladung kam und was ich dort erlebte. Ein Reisebericht.
Der ehemalige Militärflughafen von Prishtina, auf dem unsere Maschine landete, wird von russischen Soldaten bewacht. Der einzige Ort im Kosovo, den die Russen bewachen – man möchte fast sagen: dürfen. Ich musste nostalgische (oder gar heimische?) Gefühle unterdrücken bei der Ankunft.
Ein Inder in Uniform und Turban(!) saß hinter einem Schalter und war für Einreise und Passkontrolle zuständig, im Schneematsch auf der ersten Straßenkreuzung standen zwei schwarze Verkehrspolizistinnen aus Ghana und regelten den Verkehr. KFOR und UN-Fahrzeuge beherrschten das Straßenbild.
Das französische und das deutsche „Verbindungsbüro Kosovo“ (Botschaften ohne Botschaftsstatus) hatten Jean Pacalet und mich anlässlich des 40. Jahrestages des Elysee-Vertrages zu einer Festveranstaltung engagiert und – damit sich die Reise auch „lohnt“ – noch einige Konzerte drum herum organisiert.
Zu dieser Einladung kam es, weil ich Dank einer fulminanten Nachdichterin aus Dijon meine Deutschland-Lieder seit einiger Zeit auch in französischer Sprache singen kann und weil eben diese CD über mysteriöse Kanäle in die Hände von Gilles Brunet gelangte, der mit einer Handvoll enthusiastischer, internationaler Pädagogen eine Europaschule in Prishtina aufbaut. Brunet meinte, dass meine Lieder der richtige kulturelle Beitrag zum 40.Jahrestag des Deutsch-Französischen Freundschaftsvertrages wären. Es gelang ihm (ich habe nicht gefragt, wie…) die Mitarbeiter des deutschen Verbindungsbüros vor Ort davon zu überzeugen.
Und so gastierte ich mit Pacalet im Theater Prishtina vor ca. 600 Deutschen, Franzosen und internationalen Journalisten, Diplomaten, KFOR- und UN-Angehörigen.
Vor dem letzten Lied standen wir plötzlich – tonlos – im Dunkeln. Stromausfall. Ein eigenartiges Gefühl, sich mit 600 Menschen in einem total dunklen Raum zu befinden und nicht zu wissen, was jetzt zu tun ist. Es wurde gelacht, nach dem Motto: das Übliche! Ein Stromausfall! Und dann wurde applaudiert. Ein Mann in der ersten Reihe wurde selbst im Dunkeln richtig sauer. Michael Steiner, Chef der UN Mission im Kosovo. Hatte er doch gerade medienträchtig mit einem großen deutschen Stromkonzern einen Vertrag geschlossen, der die Lösung dieses Problems Euro-schwer besiegeln sollte.
Mindestens zwei Mal täglich habe ich Stromausfälle erlebt in Prishtina. Dann werden in der ganzen Stadt Generatoren in Gang gesetzt, kleine Motoren, die vor den Geschäften und Kneipen auf den Fußgängerwegen stehen und über die man andauernd steigen muss, wenn man durch die Straßen läuft. Es stinkt nach Diesel und ein höllischer Lärm hebt an. Die Menschen scheinen sich daran gewöhnt zu haben, dass es knapp 4 Jahre nach dem Krieg keinen Verlass auf regelmäßige Versorgung mit Elektrizität, Fernwärme und Wasser gibt.
Der Krieg ist noch allgegenwärtig in Prishtina. Nicht nur durch Ruinen, wie das ehemalige Postgebäude, das als eine Art Mahnmal die Stadt überragt, auch die vielen Bretterbuden, Provisorien, wohin das Auge blickt, lassen einen sehr anschaulich an der Konfliktlösungstauglichkeit von so genannten Friedensbomben zweifeln.
Auch die überall auf den Straßen herumstehenden, dunkel gekleideten Männer, die warten, stehen und warten, dass etwas geschieht, sind ein trostloser Anblick. Die Arbeitslosigkeit ist enorm und die, die Arbeit haben, können davon kaum ihre Miete bezahlen, geschweige denn, ihre Familien ernähren. Ein Lehrer verdient 160,- €, eine Zweiraumwohnung kostet 200 €. Ich lernte einen Lehrer kennen, der tagsüber unterrichtet und nachmittags (aus der Türkei geschmuggelte) Zigaretten auf der Straße verkauft. Ein Restaurantbesuch – für ihn unmöglich!
Prishtina hat eine Universität. Ihr ist es zu danken, dass auch viele junge Leute unterwegs sind, die der Stadt ein ganz „normales Flair“ geben. Sobald aber die Dunkelheit hereinbricht, sind diese jungen Leute wie durch Geisterhand aus dem Straßenbild verschwunden. Mir fiel erst am dritten Abend auf, dass ich zum wiederholten Mal die einzige Frau im Restaurant war. Frauen gehören abends nach Hause, sagte mir ein Albaner auf Nachfrage. Tatsächlich sind das nicht nur religiöse „Diktate“. Die Familie spielt generell im Balkan eine wichtige, vielleicht die übergeordnete Rolle. Wenn gesellschaftliche Regeln des menschlichen Zusammenlebens außer Kraft gesetzt sind, tritt Tradiertes, über Generationen Überliefertes vielleicht an deren Stelle.
Wir gaben noch mehrere Konzerte im Kosovo und waren auch Dank der Leipziger Grünenpolitikerin Gisela Kallenbach in Peje/Pec, wo einen Tag vorher eine Rakete ungeklärter Herkunft in ein öffentliches städtisches Gebäude einschlug. Gisela Kallenbach versucht seit 4 Jahren im Kosovo als Senior Political Advisor Verwaltungsstrukturen aufzubauen. Sie fuhr mit uns in ein Nonnen Kloster mit einer unbeschreiblich schönen Kirche aus dem 14. Jahrhundert, das von 15 Kosovo-Albanerinnen bewohnt wird. Während die Nonnen uns zum selbst gebrannten Pflaumenschnaps einluden, patrouillierten vor den Klosterfenstern im Schneeregen KFOR-Soldaten auf und ab. Sie bewachen das Kloster seit knapp 4 Jahren Tag und Nacht gegen immer noch zu befürchtende Übergriffe von Serben.
Am letzten Tag waren wir eingeladen, mit 9 bis 12jährigen einer ganz normalen Schule eine Musikstunde zu gestalten. In den Klassenzimmern, die wegen der Raumnot in drei Schichten genutzt werden müssen, standen Kerzen auf den Tischen. 40 % des Unterrichts findet wegen der andauernden Stromausfälle bei Kerzenlicht statt, sagte die Schuldirektorin Greta Kacinari der „Shkolla Fillore Elena Gjika“. Sie führte uns in die Aula, ein flacher, schlauchartiger Raum, eine Art Fabriketage, in der auch unterrichtet wird. Ca. 300 Schüler und Schülerinnen der 3. bis 7. Klassen erwarteten uns. Ich kramte in meinem Hinterkopf nach deutschen Volks- und Kinderliedern. Die Kinder waren beängstigend brav und sahen mich erwartungsvoll an.
Wie sollte ich sie anreden? Wie mich verständlich machen? Worüber mit ihnen reden? Was hatten sie für Erinnerungen an den Krieg? Konnte man einfach so drauflos plaudern?
Mit Gilles Hilfe, der meine kleine, französische Ansprache ins Englische übersetzte und der Schuldirektorin, die das wiederum ins Albanische übersetzte, tastete ich mich auf äußerst sensiblem Parkett vorsichtig zu den jungen Kosovo-Albanern vor.
Ich erzählte von Deutschland, von meinen erwachsenen Töchtern, von Berlin, von Liedern, die ich mag, sang ihnen ein Kinderlied vor, ich erzählte von Paris und davon, dass mein Vater sich im 2. Weltkrieg in Paris vor den Deutschen versteckt hatte und Jeans Vater in dieser Zeit in einem deutschen Gefangenenlager war und dass er seitdem die Deutschen nicht gerade liebt, dass wir aber, die Kinder dieser Väter, uns sehr gut verstehen und, dass das „Geschichte“ sei nach meinem Verständnis.
„Jetzt spielt Jean Pacalet für euch ein Stück, das hat er für Kinder komponiert, es heißt „Der Schmetterling“, sagte ich. „Bitte schließt jetzt ganz fest die Augen und stellt euch einen Schmetterling vor.“ Jean begann zu spielen und 300 albanische Kinder begannen sich mit zugekniffenen Augen im Rhythmus der Musik zu wiegen. Sie streckten ihre Ärmchen in die Höhe und vollführten mit den Händen kleine Flugbewegungen. Ich musste mein Heulen unterdrücken. Vor der Straße drang der Lärm der Generatoren zu uns in die Aula, wieder ein Stromausfall.
Zum Schluss sangen sie uns ein albanisches Kinderlied vor und verließen dann ganz diszipliniert mit ihren Lehrerinnen den Raum.
Ein Junge kam auf mich zu. „Ich bin Nazif“, sagte er in tadellosem Deutsch.
Nazif wurde in Deutschland geboren und ist mit seinen Eltern vor einem Jahr nach Prishtina zurückgekehrt. „Weißt du, Barbara“, sagte er, als würde er mich Jahre kennen, „in Deutschland war es viel schöner. Aber meine Eltern wollten wieder zurück in unser Haus, da musste ich doch mit. Das Schlimmste ist, dass mich keiner meiner Freunde aus Deutschland hier besuchen kommt. Kannst du bitte in Deutschland sagen, dass es hier gar nicht so schlecht ist?“
Dann drückte er mich kurz und fest, als wäre er der Erwachsene und ich das Kind und ging, ohne sich umzudrehen, zurück zu seiner Klasse.
Nachtrag:
Mit den Luftangriffen auf Jugoslawien 1999 wollte die Nato erreichen, was auf diplomatischem Weg unmöglich schien: Nämlich der Willkür eines Diktators Einhalt gebieten. Das Kosovo sollte multiethnisch bleiben, eine selbst tragende Autonomie sein, in der alle Volksgruppen friedlich zusammenleben und die Rechte von Minderheiten gewahrt sind. Aber Milosevic blieb noch weitere eineinhalb Jahre an der Macht, bevor man ihn zum Abdanken bewegen konnte. Und mit der Flucht eines Großteils der serbischen Bevölkerung hat sich im Kosovo eine weitgehend ethnische Trennung vollzogen. Die Provinz steht immer noch unter UN-Verwaltung, der künftige Status ist völlig ungeklärt. Hinzu kommen: Kriminalität, politische Morde, unvorstellbar hohe Arbeitslosigkeit, fehlende Versorgung mit Wasser und Strom. Alles in allem: Die derzeitige Situation ist weit von den damaligen Zielvorstellungen entfernt.
Krieg ist eben kein geeignetes Mittel zur Konfliktlösung.
Nicht im Balkan, nicht im Irak, nirgendwo!
Barbara Thalheim