Berliner Ensemble
Wohin wir sterben
Gedanken nach dem Abschied von der Schauspielerin und Diseuse Gisela May
Noch nie trieb ich mich so oft auf Friedhöfen herum wie in meiner Pariser Zeit Anfang der neunziger Jahre. Die Unwirtlichkeit meines Aufenthalts in der Stadt der Liebe, der schönsten der Welt, wie immer behauptet wird, spülte mich in den ersten Wochen täglich dort hin, wo man nicht reden muss, auf Friedhöfe.
Auf dem Cimetière Montparnasse erinnerte das schlurfende Geräusch hunderter Besucherfüße auf den weißen Marmorkieselwegen an perkussive Botschaften aus meinem zurückgelassenen Leben als Sängerin in Berlin. Einmal kam ich dazu als eine Gruppe Schulmädchen im Diesseits des Jenseits auf Serge Gainsbourgs Grabplatte „Je t’aime moi non plus“ krähte und sich dabei stöhnend, tanzend seiner Klamotten entledigte. Für das Verständnis dieser Vorstellung braucht man keine Sprachkenntnisse. Ich fing an zu heulen. Die Botschaft war: Die Rückkehr der Toten beginnt, wenn wir ihre Abwesenheit als anwesend feiern.
Ich sah mich als Sechsjährige in den fünfziger Jahren an der Hand meines Atheististen-Vaters über den Leipziger Südfriedhof zum Grab meines Großvaters gehen. Wo ist Opa jetzt, fragte ich? Er ist nirgendwo, er ist tot, antwortete mein Vater. Eine unfassbare Antwort für ein Kind.
Unweit meiner Berliner Wohnung befindet sich der Dorotheenstädtische Friedhof. Auf manchen Gräbern liegen immer wieder kleine Geschenke, Botschaften, persönliche Wünsche, adressiert an die Verstorbenen. Christa Wolfs Grab wird mit allerlei Schreibgerät bedacht. Kugelschreiber, Fineliner, Füller, Buntstifte, Kreide….Die werden alle paar Wochen von der Friedhofsverwaltung einkassiert, um dann von Besuchern, Verehrern wieder neu aufgefüllt zu werden.
Nun hat auch Gisela May nach ihrer Abschiedsfeier in Baumschulenweg ihre letzte Ruhestätte auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof gefunden. Was werden Besucher auf ihrem Grab ablegen? Vielleicht Fahrkarten als Nachweis weiter Anreisen, Belege der Mühe für eine letzte Verneigung vor La May, der Grande Dame des politischen Chansons.
Januar 2017. Friedhof Berlin-Baumschulenweg. Keine Gesangbücher. Kein Pfarrer. Keine Orgelmusik.
Gisela May hatte ihre Trauerfeier selbst geplant und auch den Ort dafür, die 1999 fertiggestellte Trauerhalle in Baumschulenweg, gewählt. Das Ensemble – Krematorium und Halle – wurde von den Architekten des Berliner Kanzleramtes Axel Schultes und Charlotte Frank entworfen. Man sieht es sofort. Und so war Gisela Mays letzter großer Auftritt fast ein Staatsbegräbnis.
Auf dem Podium leuchtendes Gelb. Van Goghs Gelb. In einem Meer aus Sonnenblumen war die Urne der Verstorbenen kaum zu sehen. Mir kam Marlene Dietrich in den Sinn. Sie wurde im Dezember geboren und starb im Mai. Gisela May wurde im Mai geboren und starb im Dezember. Die Dietrich gestattete im Alter keine Bild-Aufnahmen mehr von sich. „Ich bin zu Tode fotografiert worden,“ sagte sie zu Maximilian Schell, der das Kunststück vollbrachte mit der Schauspielerin einen letzten (Dokumentar) Film zu drehen, ohne sie dabei zu filmen.
Gisela May ließ sich auch im Alter gern fotografieren, bestimmte aber, dass bei ihrer eigenen Trauerfeier kein Foto gezeigt werden sollte.
Unter den Trauergästen für die Verstorbene, die 2000 den Verdienstorden des Landes Berlin und 2004 das Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse erhalten hatte, suchte man den Berliner Bürgermeister, den Intendanten des Berliner Ensembles, an dem sie dreißig Jahre engagiert war, die Präsidentin der Akademie der Künste, deren Mitglied Gisela May seit 1972 war, vergebens.
In der Presse hieß es, die Schauspielerin und Diseuse wäre im 93. Lebensjahr friedlich eingeschlafen. Nachrufe bemühen gern das Bild vom sanften Tod. Begriffe wie einschlafen und Frieden nehmen dem Tod das unfassbar Endgültige. Wer einschläft wacht auch wieder auf. Wenn nicht im Bett, dann aber doch im Himmel.
1984 setzte sich der 80jährige Psychiater T. St. aus Karl-Marx-Stadt, assistiert von einem Arzt-Freund inmitten seiner Lieben, die zu diesem Anlass angereist waren, die finale Spritze, ein Narkotikum. Der Psychiater schlief ein. Als er entschlafen war blieb die Familie um sein Bett versammelt. Man trank, aß, redete mit dem Toten und über ihn. Es wurde sogar gelacht. Das hat mir der Sohn des Psychiaters dreißig Jahre später erzählt. So oder ähnlich wünschen sich viele Menschen ihr Aus-dem-Leben-Scheiden, glaube ich.
Gisela May hatte keine eigene Familie. Sie lebte die meiste Zeit ihres langen Lebens allein. Ihr Vater Ferdinand May, Mitbegründer des Kulturbundes der DDR, war in den fünfziger Jahren als Chefdramaturg des Leipziger Theaters mit meinem Vater befreundet. Als Sechsjährige hörte ich den beiden Männern manchmal zu. Das Wort Chanson, das öfter vorkam in ihren Gesprächen, merkte ich mir, obwohl ich keine Ahnung hatte was man darunter versteht.
Seit der Jahrtausendwende waren viele Freunde und Kollegen von Gisela May gestorben. Auch ihr langjähriger Pianist Manfred Schmitz. Das Gefühl übrig zu bleiben macht einsam. Man verliert den Halt. Man verwechselt Bekanntschaft mit Freundschaft auf der Suche nach Ersatz für die abwesende Familie. Alle wollen alt werden, aber alt sein?
Die Französin Jeanne Calment starb mit 122 Jahren 1997 in Arles. Von ihr ist überliefert, dass sie bei jedem ihrer Geburtstage (ab dem hundertsten) sagte: Gott hat mich vergessen.
Gisela May war eine Kämpferin, nicht nur in Bezug auf ihre künstlerische Arbeit, in der sie Perfektionistin war. Sie kämpfte gegen schlimme Krankheiten. Aber gegen das Alter kann man nicht kämpfen. Als ein autarkes Leben für sie mehr und mehr unmöglich wurde, hofften Freunde und Betreuer, insbesondere ihre treueste Schülerin, aufopfernde Begleiterin und Vorleserin Johanna Arndt manchmal auch insgeheim auf Erlösung.
Jean Améry behauptet in seinen Essays über den Tod, dass vom Schicksal begünstigte, mit besonderen Gaben ausgestattete Menschen oft einen schweren Abschied haben. Als würden sie im Loslassen ihr Leben rückwärts und ins Gegenteil verkehrt durchleiden müssen.
Einmal habe ich Gisela May gefragt, wie sie ihre Erfolge als Bürgerin eines in der Welt nicht unbedingt immer gut angesehenen Landes, dazu noch im Kalten Krieg persönlich verarbeitet hat. Ich dachte dabei an ihre Triumphe in der Carnegie Hall New York, der Mailänder Scala, im Opernhaus Sydney, Pariser Olympia, um nur einige zu nennen. Ihre Antwort: durch Fleiß.
2002 wurden wir Nachbarinnen. Ich hatte Giselas Fürsprache bei unserem Vermieter meinen Einzug in die Berliner Hugenottensiedlung zu verdanken. Die berühmte Mieterin mit eigens ausgebautem Probenstudio im Dachgeschoss, hatte Anfang der 60er Jahre ihre Wohnung bezogen. Neben ihr wohnte bis zu ihrem Tod 1973 Elisabeth Hauptmann, Bertolt Brechts Mitarbeiterin.
Die wenigen verbliebenen Altmieter der Hugenottensiedlung können wunderbare Geschichten erzählen, Geschichten, die an Filmszenen erinnern. Zum Beispiel über Sommerfeste im verwunschenen Hausgarten. An langen Tafeln, bunt gedeckt, saßen die Familien der 30 Mietparteien. Höhepunkte dieser Treffen waren kleine Aufführungen durch die Kinder der Anwohner unter der Leitung der Schauspielerin Gisela May, die zu diesem Anlass ihren Kostümfundus freigab.
Voilà, der Vorhang – die Tür zum Garten – öffnete sich, die verkleidete Kinderschar führte vor, was die berühmte Schauspielerin mit ihnen einstudiert hatte.
Zu ihren eigenen Geburtstagen am 31. Mai kamen Freunde und Schauspielkollegen, Regisseure, Filmleute, Dramaturgen, Musiker, Nachbarn, Schüler und Schülerinnen und Mitarbeiter. Auch Politiker, Repräsentanten des untergegangenen und des heutigen Staates entstiegen mit Blumenbuketts und Kuchenbergen an der Grundstücksschranke ihren Dienstlimousinen. Wer La May in den letzten zehn Jahren öfter besuchte wusste, dass man bei Türöffnung durch die Jubilarin sogleich lossprechen musste. Gisela erkannte Menschen vornehmlich an ihren Stimmen. Altersbedingt war auf die Augen weniger Verlass als auf die Ohren. Zwischen den Besuchern huschten die geliebten Katzen umher, die vom „Vorkosten“ der kalten Platten abgehalten werden mussten.
Am 24.9.2001 schrieb mir Gisela: „…bin sehr gespannt, wie dein Abend im BE zustande gekommen ist. Leider kann ich nicht kommen, weil ich Gastspiel in Kopenhagen habe. Zu blöd. Meine letzte Erfahrung im BE am letzten Freitag: (sie gastierte seit 2000 wieder im Berliner Ensemble mit ihrem „Gisela May singt und spricht Kurt Weill“- Abend) Vorverkauf mäßig – Abendkasse glänzend. Also nicht verzagen! Leider macht das BE keinerlei extra Werbung. …Jetzt lief die 10. Vorstellung; Peymann hat den Abend nie gesehen…natürlich hast du es schwerer. Bei mir zieht ja nicht nur mein Name und meine 30jährige Zugehörigkeit zum BE, sondern auch der Name Weill….“
Tage später steckte meine Nachricht in ihrem Briefkasten: …. „war super und sogar voll. Unglaublich motivierte Bühnencrew! Ausführlich wenn wir uns sehen. Wenn ich eingezogen bin werde ich Visitenkarten mit: wohnhaft in der Chansonnettensiedlung … drucken lassen.
Auch am 31. Mai 2004 gastierte Gisela May mit ihren Brecht-Weill-Abend wieder im Berliner Ensemble. Am Ende des Konzertes regneten Rosenblätter aus dem Schnürboden auf Jubilarin herab. LA MAY stand, Blick auf den obersten Rang des Theaters gerichtet, an den Flügel gelehnt, von einem euphorischen Publikum gefeiert, auf der – ihrer – Bühne. Dieser Abend war war für mich ihr eigentlicher Bühnenabschied, ein Konzert, das nie wieder zu toppen sein würde. Die Besucher erhoben sich von den Plätzen als sie die Bühne betrat und auch als sie sie verließ. Kaum ein Zuschauer im Saal der nicht wusste, dass es ihr 80. Geburtstag war. Später erzählte sie mir, dass dieses Gastspiel gar nicht aus Anlass ihres Achtzigsten an sie herangetragen wurde. Das Datum war Zufall. Die Intendanz wusste erst gar nicht, dass sie ihr ehemaliges Ensemblemitglied zu einem Jubiläumskonzert gebeten hatte. Aber die Kollegen, Inspizienten, Beleuchter, Bühnenarbeiter, Garderobieren, Tontechniker wussten es. Sie hatten auch die Rosenblätter besorgt.
In die Wohnung von Gisela May ist eine Familie mit Kindern eingezogen. Ich sah sie am Abend ihres Einzugs in inniger Umarmung auf ihrem neuen, „Giselas“, Balkon stehen, als könnten sie ihr Glück kaum fassen.
Ob sie wissen, wer die Dielen ihrer geräumigen, sonnigen Wohnung vor ihnen zum Knarren brachte? Welche Höhenflüge, Räusche und Schicksalsschläge von ihrer berühmten Vormieterin über fünfzig Jahre lang in dieser Wohnung bewältigt wurden? Ich denke an den Schock der Kündigung durch das Berliner Ensemble 1992 nach dreißig Jahren Zugehörigkeit zum Haus. Wolf Kaiser, Gisela Mays Schauspielkollege und dienstältester Macky Messer am BE hat sich nach seinem Rausschmiss am 22.10.1992 aus dem Fester seiner Wohnung in der Friedrichstraße in den Tod gestürzt.
Auf dem Gelände der Hugenottensiedlung gibt es einen alten Maulbeerbaum. Er verweist auf die im 18. Jahrhundert auf Königlichen Befehl nicht nur auf diesem Grundstück verordnete Seidenraupenzucht. Stadtführer erzählen ihren Touristengruppen unter diesem Baum die Geschichte der protestantischen Glaubensflüchtlinge aus Frankreich, die man in Brandenburg und Preußen Réfugiés, erst später dann Hugenotten nannte.
Eine der Stadtführerinnen führt immer einen alten Kassettenrecorder mit sich. Nach ihrem Vortrag über die Hugenotten kommt er zum Einsatz. Mit ausladender Geste verweist die junge Frau auf das Haus hinter dem Maulbeerbaum. „Hier wohnt die berühmte Schauspielerin und Diseuse… hören wir jetzt ihr Lieblingslied „Es wechseln die Zeiten“ aus „Schwejk im zweiten Weltkrieg“ gesungen von Gisela May.
Die Touristenführerin studiert Schauspiel und möchte Chansonsängerin werden.
Ab jetzt wird sie an dieser Stelle ihres Vortrags sagen müssen: Hier wohnte über 50 Jahre…….
„……Es wechseln die Zeiten, die Nacht hat zwölf Stunden dann kommt schon der Tag….“
(eine gekürzte Fassung dieses Artikels erscheint am 25. März 2017 in der Tageszeitung „neues deutschland“).