Zu ihrem 70. Geburtstag am 5. September 2017 wäre sie nun endlich „voll jährig“, behauptet die Berliner Liedermacherin Barbara Thalheim. „Es hat bei mir etwas länger gedauert; hab versagt, geklaut, gelogen, mich verrannt, gebrannt für irgendwelche Demagogen, denen ich in den … ach, was sag ich? – gesungen habe. Bin vorm Ziel gern nochmal abgebogen, übers Ziel hinausgeschossen, …den falschen Leuten vertraut, tief gefallen, fast zum Himmel aufgestiegen, vor meiner Haustür geschrubbt, das Trottoir blieb wie’s war, eingetretener Dreck eben. Hab im Dominikanerkloster Utrecht für Urbi und Orbi den Tisch gedeckt, die Schüsseln ausgeleckt und mich zurückgezogen. Schlaflose Nächte in der cité universitaire, atlantikwellenverrauschter peripherique in Paris. Heute sind sie fast alle tot, die neuen, jüngeren Freunde in der Stadt der Liebe. Am Äquator unter fremden Sternen bei fremden Menschen, von denen wenige Freunde wurden, nach fremden Vätern gesucht. 1995 wollte ich nie wieder singen und saß nach (großmäulig angekündigter) letzter Tournee in der Früh vor zwanzig bekritzelten Kassenbons, der Sud der Texte zu: „20 neue Lieder“, politischer als alle anderen davor…“
Barbara Thalheim war eine der widersprüchlichsten Künstlerinnen der DDR;
1989 – kurz vor dem Ende DDR wurde sie – „Überraschung“ – mit dem Kunstpreis der DDR geehrt, den sie nicht persönlich entgegennehmen konnte, weil sie auf der Rückfahrt von einem Konzert in Schleswig-Holstein an der innerdeutschen Grenze von ihren Landsleuten vierundzwanzig Stunden festgesetzt wurde, wegen des Verdachts auf – achjottachjott, wie schäbig, wie lächerlich, wie lang her – während im DDR-Kulturministerium die Preisverleihung erfolgte. Ohne sie.
1990 – erhielt sie gemeinsam mit Friedrich Schorlemmer und Ulrike Poppe den Martini-Preis der SPD (Pfalz)
1990 – eröffnete sie mit „Auferstanden aus den Dogmen“ die Wiener Festwochen auf dem Rathausplatz in Wien
1994 und 2004 – erhielt sie den Preis der Deutschen Schallplattenkritik
Barbara Thalheim veröffentlichte über 20 Schallplatten und CDs, Bücher und DVDs, sie schrieb Essays und Artikel für Zeitschriften.
Der Geburtstag der Künstlerin am 5.9. ist Anlass, nicht aber Grund der Konzerte am 5.9. in Leipzig und am 8.9.2017 in Berlin. Die dann 70jährige wird Künstler präsentieren, deren Kunst für sie „Lebensmittel“, d.h. unverzichtbar geworden ist:
Das Oeuvre der Berliner Salon-Hip-Hopper Pigor & Eichhorn („Pigor singt, Benedikt Eichhorn muss begleiten“) zu beschreiben wäre Eulen nach Athen tragen. Hoch dekoriert – Deutscher Chanson-Preis, Deutscher Kleinkunstpreis, Deutscher Kabarettpreis „Karl“, Leipziger Löwenzahn (Lachmesse)…. – sind Thomas Pigor und Benedikt Eichhorn seit Jahren das innovativste Autorenteam des neuen deutschsprachigen Chansons. Wer Songs wie: Berlin Airport, Brecht haben, Das Zölibat fällt nicht, Heidegger, Hitler (rasiert sich), Maulende Rentner, Hauptbahnhof (von Paris) und-und-und nicht kennt, hat seinen Synapsen wesentliche Nahrung entzogen!
Die Chansonniere Michèle Bernard aus Lyon ist eine der besten Songschreiberinnen Frankreichs. Die poetischen Bilder ihrer Liedtexte sind zum Heulen schön. Auf ihrer aktuellen CD „ Tout‘ Manières…“ hat sie ein Chanson über den verstorbenen französischen Avantgarde-Akkordeonisten Jean Pacalet, achtzehn Jahre Thalheims musikalischer Partner, veröffentlicht.
Thalheim hat Songs von Michèle Bernard ins Deutsche übertragen. Beim vorletzten Nürnberger Bardentreffen sind beide Sängerinnen, laut Presse „künstlerische Zwillinge im Herzen“, bei ihrem gemeinsamen Programm vom Publikum gefeiert worden. Bernard ist mit ihrer aktuellen CD nicht zum ersten Mal in den französischen Charts. Der Song „Je clique“, „Ich klicke“ erklingt im Programm „voll jährig“ zweisprachig.
Der wortgewaltige Spracharchäologe Martin Buchholz (Deutscher Kabarettpreis, Deutscher Kleinkunstpreis, Gaul von Niedersachsen, Garchinger Kleinkunstmaske, Schweizer Kabarettpreis „Cornichon“ …) kündigt sein letztes Bühnenprogramm für November 2017 an. „Alles Lüge – kannste glauben“ wird ein Hineinfunzeln in die düstersten Winkelzüge der öffentlichen Lügen (alternativen Fakten), sagt Buchholz. „Aufhören mit 75? Ich kann’s mir bei vielen Kollegen vorstellen, bei manchen wünschen, von mir selbst hoffen, bei Martin Buchholz ganz und gar nicht“, sagt Barbara Thalheim.
Alexandra Lachmann, (Sopranistin – VocalConsort, Vokalquintett Berlin, „Schubladen“ mit She She pop…) war als Säugling dabei, wenn ihre Mutter und B. Thalheim an Manuskripten ihrer Sendereihe über internationale Chansonniers beim Radio-Jugendsender DT64 arbeiteten. Die „rhythmische Ruferin“ Thalheim wünscht sich von der ausgebildeten klassischen Sängerin „El viaje definitivo“ von Ernesto Cordero und mahnt das Publikum die Taschentücher nicht zu vergessen.
Der Musikkabarettist, Dichter, ausgebildete Pianist und durch Multimultimultibegabung auch verhinderte Buch-, nein, Musikalienhändler Marco Tschirpke (Deutscher Kleinkunstpreis, Deutscher Kabarettpreis) ist der Erfinder von Entgleisungs-Fehlgriff-
Missgeschick-Versehen-Fauxpas-Ausrutscher- kurz: Lapsus-Liedern. Harry Rowohlt und Horst Evers haben ihn mit Elogen überschüttet. Peter Hacks, sein Alter ego, würde es ihnen gleichtun, wenn es im Jenseits Leselampen gäbe.
DE FACTO DAKTYLEN:
Da fragt mich ein Mädchen mit Klemmbrett die Tage
ob ich mitmach bei einer Meinungsumfrage
Ich fall ihr ins Wort, sag: “ich hab keine Meinung,
ich habe ein Weltbild und neig zur Verneinung.“
Noch ehe sie sich im Erwidern verlor,
sprach ich: „Und, nebenbei, du kommst nicht darin vor.“ M. Tschirpke
Nicht zu vergessen, großartige Musiker sind auch dabei:
in Thalheims Band:
- Rüdiger Krause, git.,
- Topo Gioia, perc.,
- Felix-Otto Jacobi, b.,
als musikalische Gäste:
- Mark Chaet, viol.
- Matthias Badzong, cl.,
- Christine Paté, acc., p.
- Livia Paté, viola